Vor etwa fünfzehn Jahren habe ich mir ein großes Kanji-Lexikon angeschafft. Es hat 2.892 Seiten, ist 2,2 kg schwer und umfasst stolze 15.375 in Japan gängige Schriftzeichen. Damals kostete es etwa 60 €. Ich hatte es jedoch dringend nötig, denn als Japanisch-Lehrerin war ich stets den übermotivierten Musterschülern ausgeliefert, die zu Hause eifrig besonders schwierige Kanji auswendig lernten, welche vom Computer verwöhnte Japaner:innen zwar lesen, jedoch nicht mehr wirklich mit der Hand schreiben können. Immer wieder werde ich aufgefordert, Schriftzeichen-Ungeheuer wie 魑魅魍魎 (chimimōryō, böse Wald- und Wassergeister) an die Tafel zu schreiben. Wenn ich zögere, kommt ein Schüler grinsend nach vorne, um sie stolz vor der staunenden Klasse zu vollenden. Ich nehme ihnen das natürlich nicht übel, im Gegenteil – ich bin stolz auf ihre Begeisterung und Lernwilligkeit!
Auf Sinnsuche
Solche komplexen Schriftzeichen, die Japanisch-Lernende wie Muttersprachler:innen in die Verzweiflung treiben, gibt es in Hülle und Fülle. Eines davon ist zweifellos utsu, das passenderweise „Depression“ bedeutet. Es besteht nicht nur aus 29 Strichen, sondern beinhaltet auch ein seltenes Radikal (Ordnungselement eines Kanji), nämlich 鬯. Das soll womöglich ein Gefäß mit aromatisiertem Alkohol darstellen und hat daher die Bedeutung „duftender Alkohol“. Dieser Duft füllt allmählich einen Wald (in der oberen Hälfte findet sich zweimal „Baum“, 木). Daraus ergibt sich das Bild eines dichten Waldes voll stickiger Luft – so bedrückend wie eine Depression:
Das Kanji hyō mit 30 Strichen weist auf eine Pferdeherde hin. Bei genauem Hinschauen erkennt man, dass es aus drei einzelnen „Pferden“ (馬) besteht:
Was bedeutet dann wohl das Zeichen mit drei „Wagen“ (go, todoroku)? Richtig, es steht für „Donnern“ oder „Dröhnen“:
Wie steht es mit chū, drei „Würmer“? Dies ist ein veralteter Sammelbegriff für Insekten und Krabbeltiere:
Doch wer jetzt denkt, hier ein Muster zu erkennen, wird durch die drei „Hirsche“ eines Besseres belehrt. Denn das steht nicht etwa für eine Gruppe Huftiere, sondern für „Rauheit“/„Grobheit“. Diese negative Bedeutung ergab sich wohl, weil einst gefräßige Wildhirsche die Ernten der Bauern vernichteten:
Die unangefochtene Nr. 1 der komplizierten Kanji ist jedoch taito, daito bzw. otodo. Mit rekordverdächtigen 84 Strichen steht dieses Zeichen angeblich für einen Personennamen, auch wenn dies nicht mehr verifiziert werden kann – Sie werden es (wenn überhaupt) ohnehin nur in ausgewählten Fachwörterbüchern entdecken. Es besteht aus den zwei gängigen Schriftzeichen für „Drache“ 龍 und „Wolke“ 雲, die sich jeweils dreimal wiederholen:
Auf Namenssuche
Das Lesen und das Schreiben eines Kanji sind oft zwei verschiedene Paar Schuhe. Selbst das komplizierteste Schriftzeichen lässt sich in seine Einzelteile (Radikale) zerlegen, auch die Reihenfolge der Striche folgt einem mehr oder weniger festgelegten Muster. Jedes Radikal hat eine bestimmte Bedeutung, aus der sich die Bedeutung des Schriftzeichens insgesamt häufig ableiten lässt. Doch letztlich kommt kein Japanisch-Lernender drum herum, sie einfach auswendig zu lernen. Woran sich sogar Muttersprachler:innen die Zähne ausbeißen, sind die 651 sog. jinmeiyō kanji („Kanji für Personennamen“), welche in der Welt verrückter Schriftzeichen ihre eigene Liga bilden. Diese sind als Ergänzung zu den von der Regierung festgelegten 2.136 „Kanji des alltäglichen Gebrauchs“ (jōyō kanji) für die Namensgebung Neugeborener zugelassen. Auch wenn sich für viele gängige Vornamen oder Silben gewisse Kanji durchgesetzt haben, liegt es bei den Eltern zu entscheiden, welche sie nutzen möchten – aber vor allem, wie diese gelesen werden sollen. Aus diesem Grund müssen viele beim ersten Treffen nachfragen, wie denn der Name des Gegenübers geschrieben oder gelesen wird.
Gängige Namen mit verschiedenen Schreib-/Lesarten:
健 „gesund“, als Jungenname: Ken, Takeshi, Takeru
愛 „Liebe“, als Mädchenname: Ai, Megumi, Mana
Yu/Yū Unisex, mögliche Kanji:
優 („freundlich“) 悠 („Ewigkeit“)
佑 („helfen“) 勇 („Mut“)
裕 („gelassen“) 友 („Freund“)
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