Dass eine harmonische Beziehung zur Natur in Japan schon lange eine große Rolle spielt, zeigt sich in der vor 1 000 Jahren vorherrschenden
Kleiderordnung zur Heian-Zeit (794-1185). Die Hofdamen trugen damals sogenannte jūnihitoe, zwölflagige Gewänder, und die Hofbeamten den kariginu genannten Hosenanzug. Ihre Seidenstoffe waren so dünn und transparent, dass die Farben der unteren Lagen durchschienen und die Kombinationen einen feinen Farbverlauf zeigten. Für jede Jahreszeit gab es mehr als 20 Farbkombinationen und vorgeschriebene Trageperioden, damit man genau dieselben Farben tragen konnte, die zeitgleich in der Natur zu sehen waren. Im Frühjahr trugen die Menschen weiß und hellrosa wie die Kirschblüten, violett wie die Veilchen oder Grüntöne wie die Blätter der Bäume. Es wäre verpönt gewesen, wenn man Herbst- oder Winterfarben im Frühling getragen hätte.
Farben und kigo in der japanischen Dichtkunst
Jede Farbe hatte damals eine hübsche Bezeichnung: z.B. moegi für die gelbgrüne Farbe junger Knospen oder suo für dunkelrot. Diesen klassischen Farbbezeichnungen begegnet man oft in tanka (Kurzgedichte), wie beispielsweise dem Wort kurenai (rosenrot) im folgenden Gedicht von Masaoka Shiki:
Kurenai no nishaku nobitaru bara no me no hari yawarakani harusame no furu | Sanfter Frühlingsregen fällt auf die roten Rosenknospen mit ihren noch weichen Dornen |
Das Wort harusame (Frühlingsregen) kann auch ein sogenanntes kigo sein: Wörter, die vor allem in der Dichtkunst haiku auf bestimmte Jahreszeiten hinweisen. Auch von Shiki stammt dieses bekannte haiku:
Kaki kueba kane ga narunari hōryūji | Als ich eine Kaki-Frucht aß, ertönte die Zeit verkündende Glocke des Hōryūji-Tempels |
Das kigo ist die Kaki-Frucht, die auf den Herbst hinweist. Wenn Muttersprachler dieses Gedicht hören, erscheint vor ihren Augen automatisch die Szenerie eines kahlen Baumes unter blauem Herbsthimmel, an dem orangefarbene Kaki-Früchte hängen, mit dem alten Tempel im Hintergrund.
QUIZ
Können Sie das kigo in den folgenden haiku finden? Die Lösung finden Sie am Ende des Artikels!
Nr. 1:
Shizukesa ya iwa ni sshimiru semi no koe | In der Stille hört man nur das laute Singen der Zikaden, das in den Felsen zu versickern scheint |
Nr. 2:
Araumi ya sado ni yokotau amanogawa | Am wogenden Strand beobachte ich die Milchstraße, die am klaren Himmel über der Insel Sado zu sehen ist |
Nr. 3:
Nanohana ya tsuki wa higashi ni hi wa nishi ni | Über einem Rapsfeld geht im Osten der Mond auf und um Westen die Sonne unter |
Der alte Mondkalender und japanische Traditionen
Die kigo-Sammlungen und die auf Jahreszeiten bezogenen Rituale wurden seit der Nara-Zeit (710-794) immer wieder in der Jahreszeiten-Chronik saijiki zusammengefasst. Allerdings brachte die Einführung des gregorianischen Kalenders 1872 diese jahrhundertelange Tradition durcheinander, beruhte sie doch auf dem alten Mondkalender. Ein Jahr wurde nicht nur in zwölf Monate, sondern in 24 Perioden nach dem chinesischen Kalender eingeteilt. Für jede Periode war je nach Region ein besonderes Ritual vorgesehen. Auch heute noch wird der Alltag dadurch geprägt, wie folgende Feiertage und Traditionen zeigen:
hachijūhachiya | 88 Tage nach dem Frühlingsanfang ist der Tag des Tee-Pflückens. |
doyō no ushinohi | Ende Juli, wenn man sich vor der kräftezehrenden Sommerhitze schützen und gebratenen Aal essen soll. |
nihyaku tōka | Die Zeit 210 Tage nach dem Frühlingsanfang gilt als besonders Taifun-gefährdet. |
higan | Die Ahnenverehrung am Frühlings- bzw. Herbstanfang zu den Tagundnachtgleichen. |
Das Sprichwort Atsusa samusa mo higan made bedeutet, dass „keine Kälte über den Frühlingsanfang dauert, und keine Hitze über den Herbstanfang“. Warum feiert man an diesen Tagen also die Ahnen? Früher glaubte man, dass die Sonnenwende gleichzeitig die Grenze zwischen der sterblichen Welt und dem Jenseits bedeutete. Das Wort higan heißt nichts anderes als Jenseits. Somit gewinnt dieses Sprichwort einen weiteren, tieferen Sinn – nämlich, dass man durch den Tod (am Übergang zum Jenseits) von allem Leid und Kummer dieser Welt befreit wird und in Frieden ruhen kann.
Auswirkungen des Klimawandels
Japan hat vier wunderschöne Jahreszeiten und ist dementsprechend mit vielfältiger Natur und leckeren Speisen gesegnet. Doch ob all das den voranschreitenden Klimawandel überleben und an die nächste Generation weitergegeben werden kann, bleibt fraglich. So reduzierte das meteorologische Amt Japans im Januar 2021 drastisch seinen phänologischen Beobachtungsdienst, der seit 1953 zahlreiche Tier- und Pflanzenarten sowie besondere Phänomene aufzeichnete, u.a. wann und wo die ersten Kirschblüten blühen oder die ersten Zikaden zu hören sein werden. Durch Erderwärmung und Urbanisierung sind bestimmte Tierarten kaum noch zu finden oder agieren völlig unabhängig von den Jahreszeiten. Mehrere Beobachtungsobjekte des Amtes sind in den letzten Jahren gar völlig verschwunden. Es ist also möglich, dass der Klimawandel auch die Sprache und Traditionen des zukünftigen Japans beeinflussen wird.
Lösung des Quiz:
- semi (Zikade) = Sommer
- amanogawa (Milchstraße) = Herbst
- nanohana (Raps) = Frühling
Dieser Artikel erschien in der April-Ausgabe des JAPANDIGEST 2021. Er wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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