Stellen Sie sich vor, Sie sind nach einer langen Corona-bedingten Pause wieder in Japan, genießen die schöne Landschaft und gutes Essen. Sie betreten ein Porzellan-Geschäft, um für Ihre Liebsten feine Teetassen als Mitbringsel zu besorgen. Sie finden eine große Herrentasse und eine zierliche Damentasse in einer Geschenkpackung für Pärchen, die sich meoto chawan („Ehepaartassen“) nennen.
Dieser Anblick erinnert Sie an den neuesten „Global Gender Gap Report“ von 2021, nach dem Japan auf Rang 120 von 156 abgerutscht sei. Sie sind empört und enttäuscht, dass Japan die Geschlechterdiskriminierung so weit treibt und Frauen eine kleinere Portion Tee als Männern zugesteht. Doch so ist es zum Glück nicht, im Gegenteil. Hinter diesem Größenunterschied steckt ein ganz pragmatischer Gedanke.
Unterschiedliche Größen erleichtern den Alltag
Während der Edo-Zeit (1603-1868) fanden japanische Handwerker durch ihre tägliche Arbeit heraus, dass sich bestimmte Alltagsgegenstände angenehmer nutzen lassen, wenn sie der eigenen Körpergröße entsprechen. Eine Tasse, die perfekt in die Handflächen der Person passt und weder zu leicht noch zu schwer ist, würde das Trinkerlebnis deutlich verbessern – besonders, da man in Japan die Teetasse mit beiden Händen anhebt. Eine ideale Tasse ist etwa so hoch wie der Durchmesser des Kreises, den man mit beiden Daumen und Zeigefingern bilden kann, und etwa so breit wie dessen Radius. Da Männer meistens breitere Hände und längere Finger als Frauen haben, sind Herrentassen also größer.
Der Durchmesser einer typischen Herrentasse (12 cm) entspricht etwa 4 sun. Sun ist eine alte Maßeinheit mit einer Länge von ca. 3 cm. Die Einheit sun ist auch heute noch ein wichtiger Maßstab für japanisches Geschirr. Die kleinsten Tellerchen mit 2 bis 3 sun werden meist als Dipschalen für Sojasauce verwendet. Mittelgroße Teller kommen für Hauptgerichte zum Einsatz. Der größte Teller von einem shaku dient als Servierplatte, auf der z.B. Sushi-Rollen dekorativ angeordnet werden.
Manch männlicher Leser wird beim Bilden eines Kreises mit Daumen und Zeigefingern feststellen, dass dieser viel größer ist als die typische Herrengröße von 4 sun. Die Japanerinnen und Japaner der Edo-Zeit hatten eine geringere Körpergröße als heute und besaßen dementsprechend auch kleinere Hände. Männer waren im Durchschnitt 1,55 m groß, Frauen sogar nur 1,45 m.
Die ideale Länge von Essstäbchen
Auch bei der Herstellung von Essstäbchen wurde an die Körpergröße der Nutzer gedacht: Typische Essstäbchen für Männer sind mit 23 cm etwas länger als solche für Frauen (21,5 cm). Als die ideale Länge für Essstäbchen gilt ein ata x 1,5. Ein ata entspricht dem Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger, wenn diese einen Winkel von 90 Grad bilden.
In China und Korea, wo traditionell ebenfalls auf die Körpergröße bezogene Längenmaße angewendet wurden, kommen generell längere Essstäbchen zum Einsatz. Der Grund dafür liegt an unterschiedlichen Essgewohnheiten. Während in Japan das Essen auf kleineren, individuellen Tellern oder Schalen serviert wird, die in die Hand genommen werden, sitzt man in China und Korea meistens an einem großen runden Tisch, auf dem die Speisen in größeren Tellern serviert werden, von denen sich alle Anwesenden bedienen. Dafür sind längere Essstäbchen besser geeignet. Außerdem haben japanische Essstäbchen ein spitzes Ende, was sich besser zum Zerteilen von Fisch eignet.
Messen auch Sie Ihre ideale Geschirr- und Stäbchengröße nach, um während der nächsten Japanreise das perfekte Souvenir zu finden!
Dieser Artikel erschien in der JAPANDIGEST September 2022-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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