Spätestens seit der Dreifachkatastrophe im März 2011 ist weltweit bekannt, dass Japan durch seine Lage auf vier tektonischen Platten und direkt am Pazifischen Feuerring ein besonders hohes Risiko für Naturkatastrophen hat. Und nach dem Erdbeben der Stärke 7,1 vor der Küste der Präfektur Miyazaki im Sommer 2024, das für einige Tage die Wahrscheinlichkeit eines nächsten großen Jahrhunderterdbebens mit geschätzten 300.000 Toten in die Höhe schnellen ließ, kann man sich schon fragen, wie sich das Land auf solche und andere Katastrophen vorbereitet. Denn nicht nur Tsunamis und Erdbeben bedrohen das Land, sondern auch Taifune, die alljährlich neben den Hitzewellen im Sommer über das Land ziehen, sowie Vulkanausbrüche, die mit der tektonischen Lage des Landes einhergehen. Tatsache ist, dass Japan auf Katastrophenfälle außerordentlich gut vorbereitet ist – und dass für alle Eventualitäten die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden.
Vorbereitung ist alles!
Das fängt beim allgemeinen Bewusstsein für die besondere Situation an, denn dass die Japanerinnen und Japaner auf einem brodelnden Kessel sitzen, ist für sie kein Geheimnis. Kindern wird von klein auf erklärt, wie sie sich im Notfall zu verhalten haben, und in besonders tsunamigefährdeten Gebieten sind überall Hinweise angebracht, wie viele Meter über dem Meeresspiegel man sich befinden muss, um sich bei einem Tsunami in Sicherheit zu bringen. In den Nachrichten wird bei drohenden oder bereits eingetretenen Katastrophenfällen ausführlich darüber berichtet. So wurde während der Taifun-Saison im vergangenen Jahr, als wie fast jedes Jahr sehr starke Taifune das Land trafen, im Fernsehen explizit darüber informiert, wie sich die Bevölkerung auf die kommenden starken Winde vorbereiten kann.
Auch die Katastrophenvorsorge ist allgegenwärtig. Neben den bereits erwähnten Vorbereitungsszenarien, die schon in Schulen und Kindergärten durchgeführt werden, gibt es beispielsweise in Tōkyō ein Katastrophenzentrum, in dem Besucher:innen erfahren können, wie sich ein Erdbeben der höchsten Stufe anfühlt, wie viel Kraft es wirklich braucht, eine Tür zu einer überfluteten Straße zu öffnen und wie man mit einem Feuerlöscher kleine Brände löscht.
All das gipfelt im alljährlichen Katastrophentag am 1. September. Das Datum ist nicht zufällig gewählt, denn an diesem Tag legte 1923 das große Kantō-Erdbeben weite Teile Tōkyōs und Umgebung in Schutt und Asche, mehr als 100.000 Menschen kamen ums Leben. Im ganzen Land finden dann Veranstaltungen statt, die die Japaner:innen auf eine mögliche neue Bedrohung vorbereiten sollen. Ergänzend dazu hat die Regierung nach der Dreifachkatastrophe 2011 den „Tsunami-Vorbereitungstag“ am 5. November ins Leben gerufen.
Warnungen von allen Seiten
Trotz aller Vorbereitungen – die Katastrophe selbst kann auch ein Trainingskurs nicht verhindern. Um alle Bürger:innen frühzeitig und bestmöglich zu informieren, gibt es deswegen ein ausgeklügeltes Frühwarn- und Informationssystem. Wer in Deutschland am bundesweiten Warntag sein Handy eingeschaltet hatte, kennt es vielleicht: eine laute Sirene, die unerbittlich schallt. Während in Deutschland das System noch Lücken aufweist, schreit in Japan jedes Smartphone (solange es sich nicht im Flugmodus befindet) auf und informiert seine Besitzer:innen, dass sich beispielsweise ein Erdbeben angekündigt. Dabei spielt es keine Rolle, ob man eine japanische SIM-Karte hat oder nicht, solange man im japanischen Netz eingewählt ist, bekommt man eine Benachrichtigung. Natürlich meldet sich das Handy nicht bei jedem einzelnen Erdbeben, da nicht jede Stärke gleich viel Vorsicht erfordert (immerhin gibt es in Japan im Schnitt 1.500 Erdbeben pro Jahr). Kleinere Erschütterungen werden oft zumindest mit einer Push-Nachricht angekündigt. Meistens auch mit einer Nachmeldung, ob ein Tsunami zu erwarten ist oder nicht. Ähnlich zuverlässig meldet das Handy Hitzewellen oder Starkregen mit der Befürchtung von Überschwemmungen.
Während Taifune und Vulkanausbrüche oft sehr früh vorhergesagt werden können, da beispielsweise von der Organisation für Luftfahrt- und Weltraumforschung und der japanische Wetterdienst ein 24-stündiges Vulkanüberwachungssystem betrieben wird, ist dies bei Erdbeben nicht immer so einfach. Dennoch gibt es eine Reihe von Messstationen, die ständig daran arbeiten, die Vorhersagen zu verbessern und früher vor größeren Erdbeben warnen zu können.
Auf diese Steine können Sie… nicht bauen?
Seit dem großen Kantō-Erdbeben müssen Gebäude in Japan erdbebensicher gebaut werden. Das bedeutet, dass sie hohe bauliche Standards erfüllen müssen, damit sie im Falle eines Einsturzes möglichst wenige Opfer fordern. Alle Gebäude müssen bis zu einem gewissen Grad flexibel bleiben, um sich bei Erdbeben bewegen zu können: Dies wird zum Beispiel durch seismische Isolationslager erreicht, auf denen die Gebäudesäulen ruhen. Das kann man sich wie eine weiche Gummimatte vorstellen, auf der das Gebäude steht und die bei einem Erdbeben mitschwingt. Auch die meisten neuen Wolkenkratzer bestehen aus Stahlrahmen mit flexiblen Gelenken und Stoßdämpfern, in denen die einzelnen Räume wie frei hängen und schwingen können, ohne dass etwas zerstört wird. Darüber hinaus sind die meisten Häuser so konstruiert, dass bei einem Beben automatisch Strom und Gas abgeschaltet werden, um Gasexplosionen oder Stromschläge zu verhindern.
Bei älteren Einfamilienhäusern findet man statt Stahlskeletten oft noch hölzerne Grundkonstruktionen, bei denen die einzelnen Stützen durch ein Verbindungssystem ineinandergesteckt sind, aber so locker aufeinander liegen, dass sie bei Bodenvibrationen genügend Schwingungsmöglichkeiten haben. Diese Bauweise kann man mit etwas Aufmerksamkeit auch bei Schreinen, Tempeln oder (historisch korrekt rekonstruierten) Palästen beobachten. Schon sehr früh haben sich die japanischen Baumeister auf die außergewöhnlichen Bedingungen eingestellt, unter denen sie ihre Bauwerke errichteten.
Ein besonderes Beispiel dafür ist der Tōkyō Skytree. Während er Tourist:innen vor allem wegen seiner Aussichtsplattform auf 350 m bekannt ist, erfüllt der Metallriese auch einen sehr sinnvollen Zweck: Denn der Skytree ist der wichtigste Funkturm für den Raum Tōkyō. Um die Bürger:innen im Falle eines Erdbebens weiterhin mit lebenswichtigen Informationen versorgen zu können, ist der Turm so konstruiert, dass es (insbesondere im frei schwingenden Teil des Turmes, der nicht verankert ist) einen Kern gibt, um den herum der Rest des Turmes nur lose verbunden ist. Wenn ein Erdbeben auf den Skytree trifft, schwingen sie mit unterschiedlichen Frequenzen und heben so einen Teil der Schwankungen auf – ein System, das übrigens schon vor Jahrhunderten beim Bau von Pagoden angewendet wurde, um zu verhindern, dass die hohen Bauwerke durch Erdbeben einstürzen.
Um die Wassermassen aufzufangen, die im Falle eines Hochwassers oder gar eines Tsunamis den Großraum Tōkyō erreichen würden, wurde unter der Präfektur Saitama nördlich von Tōkyō die „G-Can“ gebaut: das größte unterirdische Entwässerungs- und Kanalisationssystem der Welt. Deren Pumpen können 200 Tonnen Wasser pro Sekunde aus der Stadt pumpen.
Überall vorbereitet
Auch wenn man das Haus verlassen muss und mit dem Shinkansen durchs Land fährt, ist man im Falle eines Erdbebens vergleichsweise gut abgesichert. Im Hochgeschwindigkeitszug gibt es ein Frühwarnsystem, das den Zug, der mit bis zu 300 Stundenkilometern durchs Land rast, abbremst, bevor ihn das Beben erreicht. Seit der Inbetriebnahme im Jahr 1964 gab es so bis heute keine Todesopfer infolge eines Erdbebens.
In Privathäusern, aber auch in Hotels gibt es verschiedene Vorkehrungen, um die Sicherheit der Bewohner:innen zu gewährleisten: So sind Regale fast immer in den Wänden verankert, damit sie bei einem stärkeren Beben nicht auf Menschen fallen. Es gibt speziell hergestellte Vorrichtungen oder Klebestreifen, die man auf besonders wertvolle oder schwere Gegenstände anbringt, damit sie keinen Schaden anrichten. Außerdem gibt es in fast allen Hotels Taschenlampen am Bett für den Fall eines Stromausfalls. Viele Privathaushalte, vor allem in besonders erdbeben- und tsunamigefährdeten Gebieten, verfügen über eine Notfalltasche, in der sich neben haltbaren Lebensmitteln und Getränken auch Kopien von Ausweispapieren, batteriebetriebene Radios und Kerzen befinden sollten. Auf der Website der Regierung gibt es eine detaillierte Liste mit Empfehlungen für diese Taschen.
Kleine Retter in der Not
Wer mit wachen Augen durch Japan geht, dem fällt vielleicht auf dem einen oder anderen der allgegenwärtigen Getränkeautomaten das Bild eines Maskottchens auf, das eine Wasserflasche in der Hand hält. Daneben steht in gelber Schrift Buchtstaben災害救援自動販売機 (saigai kyūen jidōhanbaiki) – „Notfall-Rettungs-Getränkeautomat“. Diese speziellen Automaten geben im Notfall kostenlos Getränke aus und sind damit ein wichtiger Bestandteil der Notfallversorgung.
Aber nicht nur die Vielzahl an abgepackten Getränken sichert im Krisenfall das Überleben: Es gibt eine ganze Industrie der so genannten saigaishoku, der „Notfallgerichte“. Neben Klassikern wie Fertignudeln, die nur noch mit Wasser aufgegossen werden müssen, gibt es Kuriositäten wie Brot und Kuchen aus der Dose, vakuumiertes Beef Stroganoff oder Instant-Curryreis mit eingebauter Kochfunktion. Alles Produkte, die durch Techniken wie Gefriertrocknen oder Vakuumieren fast ewig haltbar sind, aber auch im Notfall eine ausgewogene Ernährung ermöglichen, die zumindest halbwegs gut schmeckt.
Abschließend kann man sagen: Japan ist ein wahnsinnig katastrophenanfälliges Land. Aber wenn man schon Teil einer Katastrophe wird, dann wenigstens in einem Land, das so gut vorbereitet ist wie Japan.
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