In Japan beträgt die allgemeine Schulpflicht neun Jahre, unterteilt in sechs Jahre Grundschule und drei Jahre Mittelschule. Danach könnte man also, mit im Schnitt 15 Jahren, die Schule verlassen und in die Lehre gehen. Das machen allerdings nur rund 1,5 Prozent[1] der Mittelschulabsolventen – die große Mehrheit besucht danach drei Jahre lang eine Oberschule (die auch berufsvorbereitend sein kann), und mehr als 50 Prozent besuchen danach eine Universität[2].
Knallhartes Ranking
Oberschulen und Universitäten, also die tertiären Bildungseinrichtungen, obliegen anderen Regeln. Da es ab der Oberschule keine Schulpflicht gibt, müssen die Schulen nicht alle Schüler:innen aufnehmen, sondern sie können auswählen (meist in Form von Aufnahmeprüfungen). Drastisch zusammengekürzt lässt sich das so beschreiben: Eine japanische Oberschule oder Uni abzuschließen ist ein Kinderspiel – Hereinzukommen ist jedoch schwer. Obwohl diese Aussage auch nicht ganz korrekt ist, denn letztendlich schafft es eigentlich, wie die Statistik beweist, so ziemlich jede:r an eine Oberschule (und auch an eine Universität). Doch die Frage ist, an welche. Denn in Japan gibt es ein knallhartes Ranking von Bildungseinrichtungen. Das ist eigentlich verblüffend simpel, denn eine einzige zweistellige Nummer sagt fast alles über eine Schule aus (die Betonung liegt jedoch auf “fast”).
Diese zweistellige Nummer wird hensachi genannt, und es handelt sich hier um eine Art Standardabweichung. Wem gerade die Gauß’sche Glockenkurve und die Varianz entfallen ist: Beim hensachi stellt 50 den absoluten Durchschnitt dar. Alles, was darunter liegt, ist unter dem Durchschnitt, und alles, was darüber liegt, über dem Durchschnitt. Die Schulen mit dem höchsten hensachi-Wert haben einen Wert von 78, die Schulen mit dem niedrigsten liegen bei 29[3]. Dementsprechend sieht es mit der Beliebtheit aus: Während bei sehr guten Schulen mit hohem hensachi-Wert oftmals Hunderte Prüflinge um 50 Plätze kämpfen, bewerben sich bei Schulen mit schlechtem Wert manchmal nur 40 Schüler:innen für insgesamt 100 Plätze – da ist es nahezu unmöglich, durchzufallen.
Alternative Wege
Man muss allerdings nicht in jedem Fall eine Aufnahmeprüfung ablegen, denn es gibt noch andere Wege:
- Empfehlung: Durch eine Empfehlung der Lehrkräfte kann man in bestimmte Oberschulen und Unis aufgenommen werden. Davon profitieren zum Beispiel sehr viele angehende Sportlerinnen und Sportler.
- Allgemeine Bewertung: In Mittelschulen spielen Anwesenheit, Mitarbeit, die zeitgemäße Abgabe aller Hausaufgaben sowie die Noten eine wichtige Rolle. Man erhält so zum Abschluss eine naishinten genannte Punktzahl. Hat man eine gewisse Punktzahl erreicht, kann man allein damit in manchen Schulen – in der Regel sind dies private Schulen – aufgenommen werden.
- Aufrücken in integrierten Schulen: In den meisten Fällen sind Grund-, Mittel- und Oberschule getrennt. Es gibt jedoch zahlreiche Bildungsträger, die einen Teil oder manchmal gar das gesamte Spektrum – vom Kindergarten bis zur Universität – abdecken. Wer von Anfang an bei diesen privaten Einrichtungen lernt, kann relativ bequem in die nächsthöhere Schule aufrücken.
Was gibt es eigentlich für Oberschulen und Universitäten?
Prinzipiell gibt es drei Arten, und die unterscheiden sich zum Beispiel stark in der Höhe der Schulgebühren:
- Kōritsu: Öffentliche Schulen, die von der Präfektur (kenritsu) oder von der Kommune (ichiritsu) betrieben werden können. In Japan gibt es 3.780 Oberschulen und 95 Universitäten in öffentlicher Hand.[4]
- Kokuritsu: Staatliche Schulen (strenggenommen auch öffentlich), die vom Staat (bzw. dem Bildungsministerium) direkt betrieben werden. Davon gibt es 15 Oberschulen und 86 Universitäten. Vier der 10 besten Oberschulen Japans sind staatlich.
- Shiritsu: Private Schulen, von diesen gibt es aktuell 1.321 Oberschulen und 597 Universitäten.
Es gibt also nur wenige staatliche und wesentlich mehr öffentliche als private Oberschulen, aber bei den Universitäten dominieren private Träger deutlich.
Warum sind Privatschulen so beliebt?
Private Schulen sind nicht unbedingt besser als öffentliche – es gibt sehr viele hervorragende öffentliche Schulen und noch mehr schlechte Privatschulen. Und während man an öffentlichen Schulen weniger als umgerechnet 1.000 Euro pro Jahr an Schulgebühren bezahlt (Schuluniformen z. B. nicht eingerechnet), kann dieser Beitrag bei Privatschulen 10-mal und mehr kosten. Doch warum sind dann Privatschulen trotzdem so zahlreich und offensichtlich beliebt? Dafür gibt es verschiedene Gründe:
- Man kommt leichter ohne Prüfung rein (siehe oben).
- Selbst wenn man eine Prüfung bestehen muss, reichen drei Fächer, in denen man geprüft wird – in öffentlichen Schulen wird man in fünf Fächern geprüft, und man muss zudem noch eine Extraprüfung ablegen, in der das Verstehen von Zusammenhängen geprüft wird.
- Da alle Aufnahmeprüfungen für öffentliche Schulen an den gleichen Tagen stattfinden, können sich die Schüler:innen nur an einer öffentlichen Schule bewerben. Wird die Prüfung vermasselt, bleibt nur die private Schule als Alternative.
Der dritte Punkt ist wichtig, um den Druck zu verstehen, der auf den Teenagern lastet. Auch die Termine für die privaten Schulen liegen eng beieinander, und die reine Teilnahme an den Prüfungen kostet bereits viel Geld (in manchen Fällen mehrere Hundert Euro). Normalerweise können die angehenden Oberschüler:innen deshalb in der Regel maximal an vier Schulen Prüfungen ablegen, und wenn man durch alle durchfällt, bleibt nur ein Jahr auszusetzen oder später eine Abendschule zu besuchen.
Diverse Prüfungsarten
Auch die Prüfungen selbst sind sehr unterschiedlich: An privaten Schulen handelt es sich oftmals nur um einen mehrstündigen Test, und das Ergebnis wird nicht selten am nächsten Tag veröffentlicht. An öffentlichen Schulen dauert die Prozedur in der Regel drei Tage:
- Tag 1: Leistungsprüfung (gakuryoku kensa) – mehrstündige Prüfungen in fünf Fächern
- Tag 2: Sonderprüfung (tokushoku kensa) – fachübergreifende Prüfungen, bei denen kreatives/kritisches Denken und das Erkennen von Zusammenhängen abgefragt wird
- Tag 3: Interview (mensetsu)
Die Reihenfolge kann leicht variieren und das Interview ist in der Regel nur eine Formalität. Die beiden Prüfungen hingegen werden je nach Schule anders gewichtet und von den Präfekturen verfasst. Auf das Ergebnis muss man mehr als zwei Wochen warten – für weniger wohlhabende Eltern ein banges Warten, denn die Entscheidung, ob privat oder öffentlich, hat einen großen Einfluss auf die Haushaltskasse der nächsten drei Jahre.
Den Druck kann man etwas lindern, in dem man eine weniger ambitionierte Oberschule anvisiert – eine Schule also, bei der der hensachi-Wert niedriger liegt. Außerdem gibt es noch die Möglichkeit der suberidome, die sog. “Rutschbremse”. Wer in der Mittelschule in den letzten beiden Jahren ordentlich mitmacht, gute Noten vorlegt und immer die Hausaufgaben macht, kann allein mit seiner Punktezahl ganz ohne Prüfung an diversen (allerdings meist privaten) Schulen aufgenommen werden.
Nach der Schule wird es leichter
Während es für die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler verheerend wäre, alle Prüfungen zu vermasseln und letzten Endes ohne Oberschulplatz dazustehen, ist die Situation für 18-jährige angehende Uni-Studierende nicht ganz so schlimm: Nicht wenige nutzen das Jahr bis zur nächsten Bewerbungsphase mit Gelegenheitsarbeiten, um so mehr lernen und etwas Geld verdienen zu können. Diese angehenden Studierende nennt man rōnin – eigentlich der Begriff für herrenlose Samurai. In konkreten Zahlen: Im Januar 2022 nahmen rund 534.000 Universitätsbewerber:innen an der zentralisierten Aufnahmeprüfung teil – rund 77.000 unter ihnen waren rōnin, die zum zweiten Mal antraten.[5]
Auch bei den Universitäten gibt es ein klares Ranking, definiert durch den hensachi-Wert, aber auch durch das Renommee der jeweiligen Universität. Die ungeschlagene Nummer Eins seit Jahrzehnten ist die öffentliche Universität Tōkyō mit einem hensachi-Wert von 75. Und wie auch bei den Oberschulen gilt: Reinkommen ist schwer, rauskommen hingegen nicht. Während in Deutschland im Schnitt jeder dritte Studierende[6] das Studium abbricht, sind es in Japan nur 7 %. [7]
Zentrale Eingangsprüfung
Ein großer Unterschied zu den Oberschulprüfungen besteht darin, dass die meisten Universitäten – zumindest alle öffentlichen, aber auch viele private – eine einheitliche Aufnahmeprüfung anwenden. Bis zum Jahr 2020 war dies der kurz center shiken genannte Test – seit 2021 nennt er sich einfach kyōtsū test. Diese Prüfungen werden nicht wie im Fall der Oberschulen von den jeweiligen Präfekturen erstellt, sondern sind landesweit einheitlich. Dementsprechend findet die Prüfung überall zum selben Zeitpunkt statt, und zwar am ersten Wochenende nach dem 13. Januar. Der Zeitpunkt ist etwas problematisch, denn zu dieser Zeit fällt gelegentlich Schnee, selbst in der Hauptstadt Tōkyō, doch bei den Eintrittsprüfungen ist man da unerbittlich. Wer nicht kommt, kann erst im nächsten Jahr wieder antreten, denn einen Ausweichtermin gibt es nicht.
Die zentralen center shiken gab es von 1990 bis 2020, doch im Jahr 2021 kam der Wechsel. Die Unterschiede sind nicht allzu groß, doch der Teufel steckt im Detail. Die beiden größten Veränderungen sind:
- Kreatives Denken, Vorstellungskraft und Ausdruckskraft spielen nun eine wesentlich größere Rolle als vorher
- Bei der Englischprüfung wird das Hörverständnis nun viel höher gewichtet
Kurz gesagt visiert man damit die Abkehr von alten Tests an, in denen nur Wissen abgefragt wurde, ohne zu messen, ob die Prüflinge auch wirklich die Problematik verstehen.
Viele Universitäten (vor allem private) benutzen neben dem kyōtsū test auch universitätseigene Prüfungen oder verzichten ganz auf sie. Auch dort gibt es zahlreiche Möglichkeiten, durch Empfehlung oder durch gute Leistungen aufgenommen zu werden.
Warum das Ganze?
Das japanische Bildungssystem stellt früh die Weichen für die Zukunft der Kinder: Wer in einer guten Mittelschule unterkommt, hat bessere Chancen, an eine gute Oberschule zu kommen. Wer eine gute Oberschule absolviert, hat bessere Chancen auf eine gute Universität. Und die besten Firmen mit den höchsten Gehältern rekrutieren ihre Angestellten natürlich von den besten Universitäten. Der Name der absolvierten Universität spielt in einem japanischen Lebenslauf die größte Rolle – viel mehr noch als das, was eigentlich studiert wurde.
Der Prüfungsstress dient auch dazu, festzustellen, wie belastbar die Schülerinnen und Schüler sind. Denn hinter der Prüfungsvorbereitung steckt sehr viel harte Arbeit: 15-jährige müssen nicht selten ein ganzes Jahr von morgens bis abends durchbüffeln, auch an Wochenenden – und das alles für ein oder zwei Prüfungen. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass viele Teenager frühzeitig aufgeben und sich mit einer “schlechteren” Schule weit unter ihrem Potenzial zufriedengeben.
Japan steht im Übrigen mit diesem System nicht allein dar – in Südkorea oder der Volksrepublik China ist der Druck auf die Jugendlichen angeblich sogar noch größer.
- [1] http://grading.jpn.org/y2222001.html
- [2] https://univ-journal.jp/76905/
- [3] https://xn--swqwd788bm2jy17d.net/rank_g.php
- [4] https://www.mext.go.jp/a_menu/koutou/shinkou/main5_a3.htm
- [5] https://univ-journal.jp/133396/
- [6] https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/studienabbrecher-wer-schmeisst-hin-und-warum-a-1150226.html
- [7] https://www.keinet.ne.jp/magazine/guideline/backnumber/19/0405/shiten.pdf
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