Der Lebensraum in Japan ist durch zwei gegensätzliche Phänomene geprägt: Auf der einen Seite Mikro-Apartments in den Großstädten, die erschwingbarere Mieten und eine Lösung für den akuten Platzmangel durch die stetig wachsende Zahl der Stadtbewohner bieten. Auf der anderen Seite findet man insbesondere in Gebieten außerhalb der Großstadtzentren mehr und mehr leerstehende Gebäude. Junge Leute zieht es in die großen Städte, ältere Generationen bleiben zurück und schließlich verschwinden ganze Dörfer von der Karte. In den Städten setzen Bauunternehmen vermehrt auf kleinere Apartments, um der großen Nachfrage gerecht zu werden. In weniger dicht besiedelten Gebieten steigt derweil die Zahl leerstehender, verlassener Gebäude. Laut einer Umfrage der japanischen Regierung waren 2018 in ganz Japan 8.460.100 Wohnungen und Häuser unbewohnt.
2015 startete die Osaka Prefectural Housing Corporation ein Projekt, um dieses Problem anzugehen. Dieses heißt 2ko1 (gelesen Nikoichi) und hat die Renovierung leerstehender Apartments zum Ziel. In dem Prozess werden zwei separate Einheiten
zu einem großen, Loft-artigen Lebensraum kombiniert. Schon zwei Jahre nach der Gründung wurde das Projekt mit dem Good Design Award des Japan Institute of Design Promotion ausgezeichnet. Die Initiative habe das Potenzial, zur Umkehr regionaler Probleme wie dem Bevölkerungsschwund beizutragen und kommunale Gemeinden zu bereichern, so die Jury des Awards. Seit 2018 ist der Name Nikoichi auch als Marke eingetragen.
Neue Wohnkonzepte für junge Familien
Das Unternehmen operiert dabei in Wohnsiedlungen mit einem hohen Anteil älterer Bewohner, um diese attraktiver für junge Leute und Familien mit Kindern zu machen. Dabei ist wichtig, dass nicht einfach nur die Quadratmeterzahl der Wohnungen verdoppelt wird, sondern neue Lebensräume für unterschiedliche Lebensstile geschaffen werden. Die Planung der Grundrisse wird über öffentliche Ausschreibungen an Architekten, die diese Vision teilen, vergeben. Mit der innovativen Neugestaltung der Apartments wird neuer Lebensraum gewonnen und die alten Wohngebäude werden aufgewertet.
Auf Basis der alten Grundrisse werden neue Designs und Raumfunktionen in die Wohnungen integriert, die genug Platz für Individualismus bieten, aber auch dazu einladen, gemeinsam Zeit zu verbringen. In der Vergangenheit war die Hauptzielgruppe des Unternehmens die junge Familie mit Kindern. In der Regel findet das Familienleben in Japan auf sehr engem Raum statt. Die Apartments von Nikoichi bieten durch die Verwendung verschiedener Materialien, Böden und Deckenhöhen einen großen, offenen Raum, in dem jedes Familienmitglied Platz findet und sich aktiv am Geschehen beteiligen kann. Die Räume sind so aufgebaut, dass Kinder den Eltern etwa beim Kochen helfen können, oder dass die Eltern ein Auge auf die im Nebenraum spielenden Kinder werfen können. Balkone und Terrassen dienen als Bindeglied nach draußen zur restlichen Wohnsiedlung. So sind die Wohnungen selbst nicht nur einzelne Einheiten an Lebensräumen, sondern auch immer als Teil der Wohnkomplexe gedacht und sollen damit den lokalen Gemeinden neues Leben einhauchen.
Geteiltes Wohnen: Raum mit verschiedenen Funktionen
Mit einer Ausschreibung im Mai 2019 widmete sich Nikoichi erstmals dem Thema geteilter Lebensraum. Eins von zwei geplanten Apartments wird nicht für Familien, sondern für Wohngemeinschaften konzipiert. Interessant ist dabei der Ansatz, dass es sich nicht nur um eine zweckmäßige Wohngemeinschaft, wie etwa hierzulande bei Studenten typisch, handeln soll. Explizit nennt sich das Konzept „shoku (職) to shoku (食)“, was so viel wie „arbeiten und essen“ bedeutet. Zielgruppe sind laut dem Unternehmen junge Singles, die zusammen leben, arbeiten und gemeinsame Hobbys teilen. Ein großer, offener Raum dient als das sogenannte „Work Lab“, wo die WG-Mitglieder gemeinschaftlich arbeiten, handwerken oder anderweitig aktiv sein können. Der offene Koch- und Essbereich mit Kücheninsel lädt dazu ein, auch die Mahlzeiten zusammen zuzubereiten und einzunehmen. So soll aus dem geteilten
Wohnraum nicht nur ein Gefühl der Gemeinsamkeit, sondern auch ein synergetischer Effekt für Schaffensprojekte entspringen.
Dass konzeptualisierte Lebensräume wie diese gefragt sind, zeigen die Zahlen: Laut dem Unternehmen gäbe es für die Nikoichi-Wohnungen bis zu elf Mal mehr Mieterbewerbungen als im Durchschnitt. Seit 2015 wurden 32 Gebäude mit 26 Grundrissen in Wohnvierteln der Städte Sakai und Neyagawa in Ōsaka renoviert (Stand Juli 2019). Beide Standorte sind besonders von der Überalterung betroffen.
Dieser Artikel erschien in der Oktober-Ausgabe des JAPANDIGEST 2019 und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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