Um den besiegten Aggressor Japan zu demokratisieren, entwarf eine Kommission der US-Besatzung 1946 eine neue Verfassung – Souverän wurde das Volk. Die Verfassung hat bis heute große politische und gesellschaftliche Auswirkungen. Eine Besonderheit ist ihr 9. Artikel (Nihonkoku kenpō daikyūjō, 日本国憲法第9条). Er wird auch als Pazifismus- oder Friedensartikel bezeichnet. Sein erster Absatz erklärt den Verzicht Japans auf Krieg als Mittel zur Beilegung internationaler Konflikte. Im zweiten Absatz heißt es, dass Japan deshalb keine „kriegsfähigen“ Streitkräfte unterhalte.
Text des 9. Artikels der japanischen Verfassung
1.日本国民は、正義と秩序を基調とする国際平和を誠実に希求し、国権の発動たる戦争と、武力による威嚇又は武力の行使は、国際紛争を解決する手段としては、永久にこれを放棄する。
2.前項の目的を達するため、陸海空軍その他の戦力は、これを保持しない。国の交戦権は、これを認めない。
1. In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.
2. Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegführung wird nicht anerkannt.
Mit dieser Einschränkung militärischer Möglichkeiten formte Artikel 9 die japanische Politik der letzten 70 Jahre nachhaltig und ist gesellschaftlich wie politisch umkämpft. So darf Japan sich zwar mithilfe der 1954 aufgestellten Selbstverteidigungsstreitkräfte (jieitai, 自衛隊) schützen. Das Recht auf Selbstverteidigung ist durch die Verfassung nicht eingeschränkt.
Das Recht auf kollektive Selbstverteidigung – also die kriegerische Unterstützung der Bündnispartner, wenn diese angegriffen werden – ist konstitutionell aber nicht vorgesehen. Dies bewirkt eine große Abhängigkeit von den USA, da diese Japans Sicherheit durch ihre Stützpunkte mit garantieren. Gleichzeitig wird jeder Schritt in Richtung Normalisierung des Militärs in Japan durch die asiatischen Nachbarländer kritisch bewertet, da diese die Ziele der japanischen Expansion im Zweiten Weltkrieg waren.
In der japanischen Bevölkerung ist nachwievor eine Mehrheit für den Erhalt des 9. Verfassungsartikels. Während der Nationalsozialismus Deutschland in den Zweiten Weltkrieg führte, war es in Japan der Militarismus. Aus diesem Trauma entstand in der Nachkriegszeit in der japanischen Gesellschaft ein starker Antimilitarismus. Dennoch setzen immer wieder Politiker durch, dass Japan wie jedes andere Land auch ein normales Militär unterhalten müsse. Artikel 9 selbst wurde noch nicht abgeändert, Japan ist aber de facto remilitarisiert: 2007 wurde beispielsweise die Verteidigungsbehörde zum Ministerium erhoben. Auch dürfen die jieitai im Rahmen von UN-Friedensmissionen an Auslandseinsätzen teilnehmen.
Seit die Verfassung eingeführt wurden, gibt es seitens einiger Politiker Vorstöße, Japan zu remilitarisieren. Gängige Argumente lauten, Japan solle sicherheitspolitisch unabhängiger von den USA sein, oder auch, dass alle anderen Länder auch normale Streitkräfte besäßen.
Die Regierung unter Ex-Premierminister Abe schien mit ihren Bestrebungen bisher am weitesten zu kommen. Seit den Oberhauswahlen vom Juli 2016 verfügte sie über die nötige Zweidrittel-Mehrheit, um eine Verfassungsänderung voranzutreiben. Unter anderem sollten die Selbstverteidigungsstreitkräfte in Landesverteidigungsarmee (Kokubōgun, 国防軍) umbenannt und das Recht Japans auf kollektive Selbstverteidigung in die Verfassung eingeführt werden.
Dazu hat die Regierung 2015 eine breit angelegte Informationskampagne gestartet, um die japanische Bevölkerung von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Verfassung zu ändern. Der Informations-Manga “Was ist das eigentlich, diese Verfassungsänderung?” (Kenpō kaisei tte nani) wird als Argument genannt, dass die Verfassung durch die US-Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg aufoktroyiert worden sei. Außerdem besäßen alle anderen Länder auch Streitkräfte, denen es erlaubt sei, Bündnispartnern beizustehen. Im Screenshot selbst ist zu sehen, wie die Bedeutung der zivilen Kontrolle betont wird, um der Sorge entgegenzuwirken, die Verfassungsänderung würde die Kontrolle des japanischen Militärs durch das Parlament unterminieren.
Die Vorhaben der Abe-Regierung zur Verfassungsänderung führte seit 2015 zu großen Demonstrationen vor allem in Tōkyō. Bemerkenswert ist dabei, dass sich insbesondere junge Studenten politisieren und organisieren.
Entwicklungen zur Verfassungsänderung in Japan seit 2016 unter Abe
Im März 2016 trat in Japan das Friedens- und Sicherheits-Gesetz in Kraft, das unter anderem die kollektive Selbstverteidigung erlaubt. Bei dem Gesetz handelt es sich um eine Neuinterpretation des Verfassungstextes. Im Mai 2017 wurden auf dieser Grundlage erstmals Schiffe der Selbstverteidigungsstreitkräfte entsandt, um einen US-amerikanischen Militärfrachter notfalls mit Waffengewalt zu schützen.
De facto ist Japan also remilitarisiert – nur der Verfassungswortlaut erinnert noch an den antimilitaristischen Geist, in dem die Verfassung 1947 in Kraft trat. Am 3. Mai 2017 gab Premierminister Abe bekannt, den Verfassungstext selbst bis 2020 ändern zu wollen. Ihr Friedenscharakter solle erhalten bleiben – die Rolle des Militärs müsse aber zeitgemäß angepasst werden (JAPANDIGEST berichtete).
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