Nach dem Amtsverzicht des Langzeitpremierminister Abe Shinzō aus gesundheitlichen Gründen war die Nachfolgerdebatte überraschend schnell und ziemlich deutlich entschieden. Und zwar für einen Politiker, der eigentlich umgehend nach Bekanntgabe der Vakanz angab, kein Interesse an dem Job zu haben. Viele hatten ihn deshalb auch nicht unbedingt auf der Rechnung. Suga Yoshihide stammt aus der fernen und sehr ländlichen Präfektur Akita und war bei der Ernennung zum Premierminister bereits 71 Jahre alt. Von manchen wurde er liebevoll “Mister Reiwa” genannt, da er es war, der das offizielle kaiserliche Motto des neuen Kaisers und damit den Namen für die neue Zeitrechnung verkündete. Das war 2019, aber er war schon lange vorher sehr präsent im Fernsehen – von 2006 bis 2007 als Innen- und Informationsminister, und seit 2012 als Chefkabinettssekretär, der in dieser Funktion häufig Regierungsbeschlüsse verkündete.
Sugas Vita ist durchaus ungewöhnlich. Im Gegensatz zu so vielen anderen Politikern seiner Generation hat er sich ganz allein hochgearbeitet. Ein Kind von Erdbeerbauern, entschloss er sich zu einem Jura-Fernstudium, während er tagsüber eher schlecht bezahlter Fabrikarbeit nachging. Seine Karriere als Politiker begann in den Achtzigern – allerdings nicht in seiner Heimat, sondern in Yokohama. Mit Verve zog er einen Wahlkampfmarathon durch, der seinesgleichen suchte. Er zog persönlich in seinem Wahlkreis von Tür zu Tür, um mit den Wählern zu reden, und er stellte sich sogar mit einem Mikrofon vor die Bahnhöfe, um die Menschen anzusprechen. Diese Praxis ist heute gang und gäbe, war damals jedoch revolutionär. Der Aufwand wurde belohnt: 1996 zog Suga ins Parlament ein, wo er bald Abe Shinzō kennenlernte und dessen treuer Weggefährte wurde.
Suga – ein Kompromisskandidat?
Ungewöhnlich ist auch, dass Suga keinem Flügel angehört, aber gerade das machte ihn wahrscheinlich zu dem Kompromisskandidaten, der von vielen Parteigenossen akzeptiert werden konnte. Suga gehört weder dem liberalen noch dem konservativen Flügel noch irgendwelchen anderen Gruppierungen an – er ist eher ein Realist, der sich nicht mit Ideologien aufhält. Ein Pragmatiker, mit sehr viel Energie, die man ihm auf den ersten Blick gar nicht zutraut. Mit dieser Energie verfolgte er auch in der Vergangenheit verschiedene Projekte, so zum Beispiel die Zerschlagung des Preiskartells der drei großen Mobilfunkanbieter in Japan – das Projekt ist in vollem Gange – oder die aktuell noch laufende, allerdings auch vielfach kritisierte Go To Travel-Kampagne, mittels derer die von der Corona-Krise gebeutelte Tourismusindustrie in Schwung gebracht werden soll.
Ein Revolutionär ist Suga nicht, und das bewies er bereits in den ersten Amtstagen. Sein Kabinett besteht hauptsächlich aus alten Herren, mit einer selbst für Japan erschreckend niedrigen Frauenrate. Fast sieht es so aus, als ob die Ministerposten so vergeben wurden, dass jede Fraktion und jedes einflussreiche Parteimitglied zufrieden gestellt wird – leider Usus, nicht erst unter Suga. Auch in Sachen Außenpolitik muss sich der in diesem Bereich kaum erfahrene Premierminister erst noch beweisen. Doch trotz dieser Bedenken bekam Suga schon mal Vorschusslorbeeren – bei repräsentativen Umfragen erreichte er mit seinem neuen Kabinett fast zwei Drittel Zustimmung bei den Befragten – Werte, von denen Abe in den vergangenen Wochen nur träumen konnte. Er wird sich nicht lange darauf ausruhen können.
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