Seit die deutsche Bundesregierung und die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften 2011 den Digitalisierungsplan Industrie 4.0 vorlegten, sind nunmehr sieben Jahre vergangen. Schritt für Schritt wenden Großunternehmen seitdem neue Technologien aus dem Bereich Industrie 4.0 an, doch der Mittelstand – das Rückgrat der verarbeitenden Industrie in
Deutschland – hinkt diesem Fortschritt hinterher.
Ohne das Mitwirken mittelständischer Unternehmen wird das Projekt Industrie 4.0 allerdings nicht gelingen und so hat die Bundesregierung breite Unterstützung zugesagt. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie sowiedas Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung haben die Initiative Plattform Industrie 4.0 (PI 4) ins Leben gerufen, um kleinen und mittelständischen Unternehmen Unterstützung bei Forschung und Entwicklung zu gewähren. Im Rahmen von PI 4 halten etwa die landesweiten Industrie- und Handelskammern (IHK) für die mittelständischen Unternehmen auf sie zugeschnittene Vorträge und Schulungen zum Thema Industrie 4.0 ab.
Auch auf ihrer Website bietet die PI 4 eine Fülle an Informationen für den Mittelstand. Eine digitale Landkarte stellt über 360 bundesweite Firmen vor, die bereits Technologien im Rahmen von Industrie 4.0 anwenden. Beim Anklicken eines Unternehmens werden Geschäftsinhalt, Mitarbeiterzahl, Anwendungsbereiche des Internets der Dinge, Vorteile und Problemfelder erklärt. Auch Kontaktinformationen wie Namen von Ansprechpartnern mit Telefonnummer und Email-Adresse sind angegeben. „Dass selbst die Telefonnummer angegeben wird, dient dem Informationsaustausch mit Unternehmern und Ingenieuren, die mehr über die Anwendung des Internets der Dinge erfahren wollen. Die direkte Kommunikation zwischen Spezialisten beschleunigt das gegenseitige Verständnis“, erklärt Henning Banthien.
Beim Digital-Gipfel im Juni 2017 in Ludwigshafen wurde ein „Zehn-Punkte-Plan der Industrie 4.0“ bekannt gegeben. Einer der wichtigsten Punkte: die Unterstützung mittelständischer Unternehmen. Innerhalb des Plans steht die
Aufklärung des Mittelstands durch die IHK an oberster Stelle.
Die Bedeutung der Unterstützung für mittelgroße Unternehmen begründet Banthien wie folgt: „Zurzeit ist nur etwa die Hälfte der deutschen Firmen ernsthaft mit dem Einleiten von Maßnahmen im Bereich Industrie 4.0 beschäftigt. Dieser Prozentsatz sollte unbedingt steigen. Der wahre Wert von Industrie 4.0 und von intelligenten Servicetechnologien kann sich erst entfalten, wenn alle Unternehmen daran teilnehmen.“
Ohne Zweifel schreitet die Einführung der Industrie 4.0 in mittelgroßen Unternehmen langsam voran, auch weil sie weniger Mitarbeiter und geringere finanzielle Mittel als Großunternehmen haben. Laut einer Umfrage der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) aus dem März dieses Jahres, haben in den Jahren 2014 bis 2016 lediglich 26 % der mittelständischen Unternehmen an Projekten zur Digitalisierung gearbeitet.
„Die deutsche Wirtschaft ist derzeit in Hochform“, führt Banthien aus. „Die Auftragsbücher füllen sich bei mittelständischen Unternehmen stetig, sodass die Produktion nicht hinterherkommt. Kurz gesagt, diese Firmen fahren
mit traditionellen Unternehmensmodellen viel Erfolg ein. Ihnen fehlen außerdem die Zeit und die Ressourcen, um ernsthaft Industrie 4.0-Projekte voranzutreiben. Ausgerechnet jetzt dieses bewährte Modell umkrempeln zu wollen, könnte auf Unverständnis treffen und vermutlich erst
nach einiger Zeit akzeptiert werden.“
Es ist durchaus ironisch, dass sich wegen der Hochform des Mittelstands die Verbreitung von Industrie 4.0 verzögert. Es ist definitiv schwierig für ein kleineres Unternehmen, die Auflösung bisheriger Strukturen zugunsten
einer Verlagerung in Richtung Digitalisierung voranzutreiben. Wenn sich jedoch das verarbeitende Gewerbe auf seiner aktuellen Position ausruht, besteht die Gefahr, dass IT-Unternehmen aus den USA und China mithilfe digitaler Plattformen die Initiative ergreifen, vor allem weil sich der Unternehmensaufbau im Bereich der Produktion und Distribution ohnehin verändern wird.
Ob die Regierung dem Mittelstand, der immerhin 99 % aller Unternehmen in Deutschland ausmacht, dabei helfen kann, auf den Zug der Digitalisierung aufzuspringen? Die Zukunft der deutschen Wirtschaft hängt davon ab.
Gesprächspartner Henning Banthien
Der studierte Philosoph und Geograph Henning Banthien hat neben seiner Tätigkeit als Sprecher der Geschäftsführung des IFOK (Institut für Organisationskommunikation) auch die Position des Generalsekretärs der Plattform Industrie 4.0 inne. Weiterhin ist er ehrenamtlich in verschiedenen Stiftungen und Beiräten aktiv. Seine Schwerpunkte sind Industrie 4.0, Nachhaltigkeit, Wissenschaftskommunikation und Governance.
Autor Toru Kumagai
Toru Kumagai wurde 1959 in Tōkyō geboren. Nach seinem Abschluss von der Hochschule für Politikwissenschaften der Waseda-Universität, fand er Anstellung bei der japanischen Rundfunkgesellschaft NHK. Über die Stationen Kōbe und Washington führte ihn sein Weg 1990 nach Deutschland, wo er seither als freiberuflicher Journalist tätig ist.
Lesesn Sie hier Teil 1 unserer Reihe zur Industrie 4.0, in dem es um dessen Rolle in Japan geht.
Dieser Artikel wurde von Toru Kumagai für die Oktober 2018-Ausgabe des JAPANDIGEST verfasst und für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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