Der Aktienmarkt, Inflation und ein japanisches Rockefeller Center: Wie Trends das Investieren prägen

Isabelle Kullat
Isabelle Kullat

In Japan ist die Bevölkerung insgesamt eher zurückhaltend, wenn es um Investitionen in Aktien geht. Traditionell legen viele Japaner:innen ihr Geld lieber auf Spar- oder Festgeldkonten an oder kaufen Staatsanleihen. Doch warum ist das so – und könnte sich daran in Zukunft etwas ändern?

Der Finanzdistrikt Nihonbashi in Tōkyō. © Alamy Stock Photo / Jochen Tack

Die Geschichte des japanischen Aktienmarktes beginnt offiziell 1878 mit der Gründung der Tokyo Stock Exchange (TSE) – bis heute die größte Börse Japans für den An- und Verkauf von Aktien im Viertel Nihonbashi-Kabutochō in Tōkyō. Japan befand sich in dieser Zeit mitten in der Meiji-Restauration, einer Periode, in der das Land versuchte, seine Wirtschaft zu modernisieren sowie westliche Technologien und Wirtschaftsmodelle zu übernehmen. Der Aktienmarkt war Teil dieser Bemühungen, den Weg für Industrialisierung und wirtschaftliches Wachstum zu ebnen. Die TSE ermöglichte es Unternehmen, schnell Kapital zu beschaffen, indem sie Anteile ihrer Firmen – eben Aktien – an die Öffentlichkeit ausgaben. In den Anfangsjahren war der Markt noch recht klein und stark von Eisenbahn- und Schiffbauunternehmen geprägt, die zu den ersten großen Industrien in Japan gehörten.

Die „Bubble Economy“ der 1980er Jahre

Eine der prägendsten Phasen der japanischen Aktienmarktgeschichte war die Zeit der Bubble Economy in den 1980er Jahren. Nachdem Japan nach dem Zweiten Weltkrieg eine starke wirtschaftliche Erholung und ein beeindruckendes Wachstum verzeichnet hatte, stiegen die Aktienkurse und Immobilienpreise exponentiell an. Die 1980er Jahre gehörten der japanischen Euphorie, der strahlenden Zukunft, der Technik und dem schier unendlich erscheinenden Wachstum. Diese emotionale Phase war durch spekulative Investitionen, sowohl in Immobilien als auch in Aktien, gekennzeichnet, sowohl im In- als auch im Ausland. 1985 kam es zum sogenannten Plaza-Abkommen der G5-Nationen und zur Aufwertung des Yens im Verhältnis zum Dollar. Hierdurch floss plötzlich eine große Menge Kapital in den japanischen Markt, das die Träume weiter anheizte. Insbesondere amerikanische Immobilien waren beliebt und die Welt hatte das Gefühl, Japan würde die Vereinigten Staaten kaufen wollen. 1989 kaufte beispielsweise Mitsubishi Estate das ikonische Rockefeller Center in Manhattan, New York City.

Der Nikkei 225 (der wichtigste Aktienindex Japans, der zeigt, wie gut es den größten Aktien am Markt geht) erreichte 1989 einen Höchststand, was das Vertrauen in den Markt weiter steigerte. Viele Investoren glaubten, dass die Preise immer weiter steigen würden. Solange die Kunden Grundstück besaßen, waren die japanischen Banken gewillt, mit Eigentum gesicherte Darlehen zu vergeben. Als jedoch diese Darlehen auch tatsächlich ausbezahlt wurden, die durch überbewertete Immobilien abgesichert schienen, begann die fehlende Liquidität die Träume zu zerstören. Die Zinsen wurden durch die Zentralbank angehoben, um die Spekulationen zu bremsen und lieber mehr liquide Spareinlagen von Kunden zu erhalten. Im Jahr 1990 platzte die Blase: Der Aktienmarkt brach ein, und der Nikkei fiel im Jahre 2003 zeitweise auf weniger als 8.000 Punkte. Der dramatische Rückgang führte zu einem langen Zeitraum der wirtschaftlichen Stagnation und Deflation, der als Lost Decade (verlorenes Jahrzehnt) bekannt wurde. 

Die Zurückhaltung japanischer Anleger

Eine gewisse Skepsis gegenüber Aktieninvestitionen in Japan hat also historische Gründe. Der Crash, verlorenes Vertrauen, Erzählungen von Betroffenen und die lange Phase wirtschaftlicher Unsicherheit danach prägten Generationen von Anlegern, die den Aktienmarkt seitdem als unberechenbar sehen. Stattdessen dominiert in Japan das Sicherheitsdenken: Viele Japaner:innen bevorzugen Anlagen, die als besonders sicher gelten – zum Beispiel Spar- und Festgeldkonten, obwohl diese seit Jahren kaum Zinsen bringen. Auch das relativ zuverlässige Rentensystem spielt hier eine Rolle, da es eine finanzielle Grundsicherung im Alter verspricht und den Druck mindert, selbst aktiv Vermögen anzulegen. Für die Wirtschaft ist dieser Zustand jedoch katastrophal.

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Investitionsanreiz durch niedrige Zinsen

In Japan ist Niedrigzinspolitik deshalb seit langem ein Dauerzustand, der Bankeinlagen praktisch wertlos macht. Während früher Festgeldkonten zumindest noch kleine Erträge einbrachten, sind die Zinssätze heute oft so niedrig, dass sie keinen realen Vermögensaufbau mehr ermöglichen. Hinzu kommt, dass die Inflation – so gering sie in Japan mit rund 3 % auch sein mag – langfristig zum Verlust der Kaufkraft des angesparten Geldes führt. Normalerweise bewirkt eine Niedrigzinspolitik, dass Verbraucher:innen mehr konsumieren und investieren, weil das Sparen sich weniger lohnt und die Kosten für die Geldanleihe niedrig sind. Doch in Japan tritt dieser Effekt nur bedingt ein.

Ein Hauptgrund für diese Besonderheit liegt in der Demografie des Landes: Japan hat eine alternde und schrumpfende Bevölkerung. Im Jahr 2024 lag der Anteil der über 65-Jährigen bei 29,3 %. Diese Entwicklung wirkt sich stark auf die Verbrauchernachfrage aus. Ältere Menschen neigen dazu, mehr zu sparen und weniger auszugeben, um die fehlende Rendite ihrer Ersparnisse auszugleichen. Diese Zurückhaltung beim Konsum hemmt die Inflation. Grundsätzlich kann Inflation – also der kontinuierliche Anstieg des allgemeinen Preisniveaus – durchaus positive Effekte auf eine Wirtschaft haben. Niedrige oder stagnierende Preise können dazu führen, dass Verbraucher:innen ihre Käufe aufschieben, da sie darauf hoffen, dass Preise noch weiter sinken. Dieses Verhalten führt in der Wirtschaft im schlimmsten Fall zu einer Abwärtsspirale: Unternehmen müssen ihre Preise weiter senken, die Gewinne schrumpfen, Löhne sinken, und die Wirtschaft verschlechtert sich weiter. Moderate Inflation wirkt diesem Effekt entgegen und stabilisiert die Wirtschaft. Die japanische Regierung und Zentralbank fördern daher Konsum und Investitionen, doch die Unsicherheit über die Zukunft und die Angst vor Altersarmut hält Viele von größeren Ausgaben ab. Jüngere Japaner:innen, die zunehmend mit der Aussicht auf wenig Ertrag durch traditionelles Sparen konfrontiert sind, sehen sich verstärkt nach Alternativen um. Hier wird der Aktienmarkt zu einer interessanten Option.

Finanzielle Förderung der Regierung

Die japanische Regierung hat Programme eingeführt, um die Zurückhaltung gegenüber Aktienanlagen aufzubrechen und privates Vermögen stärker zu fördern. Zwei dieser Programme sind das NISA (Nippon Individual Savings Account) und das iDeCo (Individual Defined Contribution Pension). Beide bieten Steuervergünstigungen auf Aktieninvestitionen und richten sich vor allem an die jüngere Generation. Mit dem NISA-Programm können Anleger:innen beispielsweise einen bestimmten Betrag pro Jahr in Aktien investieren, ohne dass darauf Kapitalertragssteuern erhoben werden. Mit dem iDeCo wiederum können sie steuerlich geförderte Altersvorsorge-Investitionen tätigen. Diese Systeme sind auch für in Japan lebende Ausländer:innen zugänglich. 

Ein Wandel in Sicht?

Niedrige Zinsen, staatliche Förderprogramme und ein wachsendes Bewusstsein für die Bedeutung der eigenen finanziellen Absicherung bringen mehr Menschen dazu, den Aktienmarkt in Betracht zu ziehen. Besonders die jüngere Generation interessiert sich inzwischen vermehrt für die Alternativen – vielleicht auch weil die Erinnerungen an die von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen geprägten 1990er langsam verblassen. Die Verbreitung von Online-Brokern und Smartphone-Apps hat den Zugang zu Investitionen dazu immens vereinfacht, und globale Trends zur Finanzbildung auf den sozialen Netzwerken inspirieren auch die japanische Jugend, ihr Geld sinnvoll zu vermehren, sich mit ihrer eigenen finanziellen Freiheit auseinanderzusetzen, anstatt Geld nur auf dem Sparbuch zu lassen. Der Trend geht somit in Richtung einer zunehmenden Offenheit für Investitionen, was den japanischen Aktienmarkt zu einem interessanten, aber vorsichtigen Spieler auf der globalen Finanzbühne macht.

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