2011 wurde in Deutschland die sogenannte Industrie 4.0 proklamiert. Die Vernetzung der verarbeitenden Industrie durch das Internet der Dinge schreitet seither voran und auch Japan hat mit Connected Industries eine Zukunftsvision entworfen: Die Revolution des Informationssektors soll die Ära der Gesellschaft 5.0 einläuten. Dieses Gesellschaftsmodell zielt darauf ab, den wirtschaftlichen Fortschritt zur Lösung sozialer Probleme einzusetzen und verknüpft den künstlichen Cyberspace mit dem physischen Raum.
Industrie 4.0 in Deutschland, Connected Industries in Japan – die Welt vernetzt sich. Was steckt hinter der vierten industriellen Revolution?
Als Marketingbegriff wurde Industrie 4.0 im Jahr 2011 von der deutschen Bundesregierung eingeführt und betitelt ein Zukunftsprojekt, das den Beginn der vierten industriellen Revolution markiert. Intelligente Vernetzung und innovative Kommunikationsstrukturen sollen industrielle Abläufe individuell gestaltbarer und effizienter machen. Schlagwörter sind dabei das Internet der Dinge, das die physische und die virtuelle Welt zusammenführt, die smarte Kommunikation von Maschine zu Maschine und die Hybridisierung von Produktion und Dienstleistungen.
Insbesondere in der verarbeitenden Industrie werden neue Technologien eingesetzt, abgezielt auf die Optimierung von Prozessen und ressourceneffizienter Arbeitsweisen. Automatisierte Entscheidungsprozesse unterstützen eine dezentralisierte, flexible und kundenorientierte Produktion. Auch in der Mobilität (z. B. Fahrerassistenz) und der Gesundheitspflege (z. B. elektronische Patientenkarten) spielen automatisierte Systeme eine große Rolle und eröffnen neue Perspektiven.
In Japan unter Connected Industries bekannt (geprägt im März 2017 durch die japanische Regierung), spielt Industrie 4.0 eine entscheidende Rolle in der industriellen Digitalisierung. Das maßgebliche Konzept ist die Verknüpfung von Mensch, Maschine und neuen Technologien, basierend auf drei Grundpfeilern: 1. Eine neue digitale Gesellschaft, in der Menschen und Maschinen/Systeme zusammenarbeiten, 2. die Problemlösung durch firmen-, branchen- und länderübergreifende Kooperationen und 3. die proaktive Personalentwicklung für den digitalen Fortschritt.
Die Revolution des Informationssektors bringt allerdings auch neue Herausforderungen, insbesondere in den Bereichen Maschinen-, Arbeits- und Informationsethik. Wie werden Japan und Deutschland mit diesen umgehen?
„Das Konzept der in Deutschland eingeführten Industrie 4.0 wurde in Japan zunächst von Regierungseinrichtungen wie dem Ministerium für Wirtschaft und Industrie rezipiert. In Zukunft sollen auch Unternehmen in die Entwicklung einbezogen werden. Wir haben eine tiefgreifende Vorstellung davon, welche Formen diese Industrie 4.0 annehmen kann und bereiten uns nun auf deren Umsetzung vor“, sagt Nagano.
Eine Stärke, die Japan bei der Realisierung von Industrie 4.0 einbringen kann, ist das technische Knowhow im Bereich Robotik und Maschinenbau. Ein beeindruckendes Beispiel ist der Entwicklungssprung vom Maschinenproduzenten hin zu „Maschinen, die Maschinen herstellen“. Eine weitere Stärke Japans sind dessen Fachkräfte im Bereich der Präzisionsfertigung. Aufgrund des demographischen Wandels hin zur Überalterung der Gesellschaft steigt in Japan der Bedarf an der Vernetzung in der Kranken- und Altenpflege durch das Internet der Dinge. „Eine Entwicklung, die schon in naher Zukunft auch Deutschland betreffen könnte“, erzählt Nagano. „Innovationen werden geboren, wenn es hierfür einen Bedarf gibt. Die spezifisch japanische Sichtweise kann dazu beitragen, insbesondere in der Kosmetik und Unterhaltung sowie bei Lebensmitteln innovative Ideen im Bereich des Internets der Dinge in die Welt zu tragen.“ Aufgrund der Ähnlichkeit der japanischen und deutschen Industriestruktur, bieten sich zahlreiche Möglichkeiten zur Zusammenarbeit an, etwa im Datenaustausch und in der Entwicklung neuer Datenerhebungsmethoden.
„Eine der Stärken Deutschlands liegt in der hervorragenden Kooperation von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik“, findet Nagano. „Das berühmte deutsche Fraunhofer Institut für angewandte Forschung zeigt, wie gut die Zusammenarbeit zwischen privatwirtschaftlichen und öffentlichen Forschungseinrichtungen funktioniert. Hier liegt Deutschland weltweit ganz vorne. Ich denke, dass allmählich auch in Japan entsprechende Kooperationen entstehen. Im Übrigen belegen japanische Partner Platz drei im weltweiten Geschäft des Fraunhofer Instituts. Mit anderen Worten: Auch japanische Unternehmen suchen nach geeigneten Partnern, um passende Kooperationsstrukturen aufzubauen. Die rechtlichen Hürden, die in der Vergangenheit vermehrt zu Problemen geführt haben, wurden in jüngster Zeit gelockert, sodass es genügend Raum für Zusammenarbeit gibt.“
Weiterhin gibt es viele Bereiche, in denen Japan von Deutschland lernen kann. „In Deutschland gibt es die sogenannte Plattform Industrie 4.0, die den Unternehmen ein Netzwerk von Unterstützungsangeboten bereitstellt. In diesem Netzwerk finden Informationsaustausch und Diskussionen unter Firmen verschiedener Industriebranchen statt. Eine weitere Stärke Deutschlands ist es, die Barrieren zwischen den verschiedenen Branchen zu überwinden und Informationen horizontal zu verbreiten. Nicht nur Ökonomen, sondern auch Soziologen und von Zeit zu Zeit auch Philosophen sind in den Diskurs und in Studien eingebunden. Diese können so ihre Erkenntnisse über den Einfluss von Industrie 4.0 auf die deutsche Gesellschaft mit in den Prozess einbeziehen. Der Wandel der Industrie verändert auch die japanische Gesellschaftsstruktur und so durchzieht diese Revolution viele Bereiche. Hier können wir von Deutschland einiges lernen“, erklärt Nagano.
Welchen Wandel wird Japan wohl vollziehen, wenn Industrie 4.0 dort Wurzeln schlägt? „Industrie 4.0 ist nicht nur eine industrielle, sondern auch eine gesellschaftliche Revolution“, subsumiert Nagano. „Eine ,Smart City‘ etwa unterscheidet sich in ihrer Struktur von bisherigen Städten. Die zunehmende Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten, entlastet zum Beispiel das innerstädtische Verkehrsaufkommen. Insbesondere in Japan kann dies die soziale Struktur derart ändern, dass es für Frauen leichter wird, am Arbeitsleben teilzunehmen. Ich bin gespannt, wie sich die japanische Gesellschaft in den nächsten zehn Jahren entwickeln wird.“
Gesprächspartner Nagano Hiroshi:
Seit 2001 ist Nagano stellvertretender Direktor der Firmenzentrale von Kajima Constructions. 2002 kehrte er zum Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie zurück. 2006 wurde er Direktor der Japan Science and Technology Agency (JST), wo er auch Principal Fellow im Zentrum für Forschungs- und Entwicklungsstrategie war. 2007 übernahm er eine Professur an einer Graduiertenuniversität für politische Forschung und 2011 wurde er Vorsitzender des OECD Global Science Forum (GSF). 2015 lehrte er auf besondere Einladung an der Keiō-Universität, 2016 dann als Gastprofessor. Er war Vorsitzender der Japan Society for Research Policy and Innovation Management und ist Fellow der American Association for the Advancement of Science. 2017 wurde er Generaldirektor der Engineering Academy of Japan.
Dieser Artikel wurde von Chihiro Kurihara für die Oktober 2018-Ausgabe des JAPANDIGEST verfasst und für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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