Jedes Jahr im Dezember kürt der japanische “Große Preis für Neologismen und Schlagwörter” (shingo・ryūkō ōshō) Begriffe, die im jeweiligen Jahr in der Gesellschaft besonders prägend waren. Während es 2020 und 2021 vor allem Begriffe im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und den Olympischen und Paralympischen Spielen, welche 2021 in Japan stattfanden, in das Ranking schafften, ist in diesem Jahr die Top 10 sehr vielfältig.
Sowohl populäre Begriffe aus der Welt der Internet- und Popkultur als auch aus der Welt des Sports, wie etwa der große Gewinner des Rankings, sind dieses Mal dabei. In Japan war es jedoch das tödliche Attentat auf den ehemaligen Premierminister Abe Shinzō im Juli, das die japanische Politik und Gesellschaft erschütterte und eine große Debatte über Abes Staatsbegräbnis sowie die kontroverse Wiedervereinigungskirche, in deren Zusammenhang das Attentat stand.
Das sind die Schlagwörter des Jahres 2022
1) 村神様 (Murakami-sama) – “Gott Murakami”
Der Begriff “Murakami-sama” (was man am ehesten mit “Gott Murakami” übersetzen könnte) bezieht sich auf den 22-jährigen Baseballspieler Murakami Munetaka, der für die Tōkyō Yakult Swallows spielt. In der 2022 Saison erzielte er sensationelle 56 Homeruns und knackte – neben weiteren Rekorden – den bestehenden Rekord von Oh Sadaharu (55 Homeruns). Er erzielte zudem fünf Homeruns und zwei Grand Slams in Folge. Fans sind begeistert von seiner Schnelligkeit und Vielseitigkeit und nennen ihn einen “Gott”. Der Begriff “Murakami-sama” enthält daher ein Wortspiel: Das kami im Namen wird normalerweise mit dem Schriftzeichen für “oben” (上) geschrieben. Hier wird es aber mit dem Schriftzeichen für “Gott” (神) geschrieben, das ebenfalls kami gelesen wird. Zusammen mit dem –sama, eine ehrenvolle Anrede, die an Namen anhängt wird, ergibt sich eine doppelte Ehrenbezeichnung.
(ab hier in keiner bestimmten Reihenfolge)
2) キーウ (kīu) – Kiew
Mit Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar blickt die ganze Welt auf das osteuropäische Land. Während die NATO-Staaten u.a. mit Waffenlieferungen und Sanktionen gegen Russland die Ukraine unterstützen, zeigte das japanische Außenministerium auch auf symbolischer Ebene seine Solidarität. Im Japanischen wurde der Name der Hauptstadt Kiew bis zum 31. März ähnlich der deutschen (und russischen) Aussprache, also kiefu (キエフ), geschrieben und ausgesprochen. Dies wurde geändert in kīu (キーウ), was der ukrainischen Aussprache deutlich näher ist.
3) きつねダンス (kitsune dansu) – Kitsune Dance/Fuchstanz
2013 eroberte das norwegische Comedy-Duo Ylvis mit ihrem Electronic Dance-Lied “The Fox (What Does The Fox Say?)” das Internet. Gepaart mit dem “Fuchstanz” (kitsune dansu), den sich das japanische Baseballteam der Hokkaidō Nippon Ham Fighters (deren Maskottchen ein Fuchs ist) Mitte 2022 ausgedacht haben, kann man nicht anders als mit lustigen Fuchs-Bewegungen mitzutanzen. Im YouTube-Video, was mittlerweile über 4,5 Millionen Klicks gesammelt hat, tanzen die Cheerleaderinnen, Maskottchen, Spieler*innen und Manager*innen des Teams die Choreographie des Original-Videos nach. Sogar die Schöpfer des Mega-Hits Ylvis wurden als Überraschungsgäste nach Sapporo eingeladen, um gemeinsam mit den Fans zu performen.
4) 国葬儀 (kokusōgi) – Staatsbegräbnis
Während die Politik und Bevölkerung Japans mit großer Erschütterung auf die Ermordung des ehemaligen Premierministers Abe Shinzō am 8. Juli reagierte, kippte die Stimmung kurze Zeit später, als die Regierung beschloss, für Abe ein offizielles Staatsbegräbnis abzuhalten. Bis zur Durchführung am 27. September gab es in viele Teilen des Landes ungewöhnlich lautstarke Proteste und Demonstrationen gegen das fast 12 Millionen Euro teure Begräbnis. Dieses wurde vor allem aus Steuermitteln finanziert, was besonders kritisiert wurde. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sprach sich gegen das Staatsbegräbnis aus.
5) 宗教2世 (shūkyō ni se) – Religion zweiter Generation
Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Attentat steht der Begriff shūkyō ni se. Der Attentäter begründete seine Tat mit den mutmaßlichen engen Verbindungen Abes zur sogenannten Moon-Sekte, auch bekannt als die Wiedervereinigungskirche. Die Mutter des Täters war Mitglied der Sekte, was die Familie in den finanziellen Ruin trieb. Der ältere Bruder nahm sich das Leben, der Täter selbst konnte nicht auf die Universität gehen und trat notgedrungen dem Militär bei. Der Begriff wirft ein kritisches Licht auf die “zweite Generation”, also die Kinder der Mitglieder von Religionsgemeinschaften, und auf den Einfluss der Religion auf diese sowie auf die Familie insgesamt.
6) 知らんけど (shiran kedo) – “Ich weiß es aber nicht”
Immer mehr Menschen beenden ihre Aussagen mit “Ich weiß es aber nicht” oder “Aber ich bin mir nicht sicher”. Im Standard-Japanischen eigentlich shiranai kedo, wird shiran kedo vor allem im Kansai-Dialekt in Westjapan benutzt. Doch mittlerweile wird der umgangssprachliche Ausdruck auch in anderen Teilen des Landes benutzt. Wie auch im Deutschen wird er am Ende angehängt, um definitive Aussagen oder Ratschläge zu vermeiden, um keine Verantwortung tragen zu müssen oder um keine Falschinformationen zu verbreiten. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie, als sich beinahe täglich die Informationslage zu ändern schien, schienen es die Menschen also lieber zu vermeiden, konkrete Aussagen zu machen.
7) スマホショルダー (sumaho shorudā) – Smartphone-Schultertasche
Laut einer Umfrage aus dem Jahre 2021 zum Thema Internetnutzung unter Kindern und Jugendlichen verbringen japanische Oberschüler*innen mehr als fünf Stunden täglich an ihrem Smartphone. Die “Smartphone-Schultertasche” ist eine kleine Tasche oder Hülle mit langem Gurt, in der man das Smartphone praktisch verstauen kann. Schien das Handy vorher mit der Hand der Nutzer*innen verschmolzen zu sein, ist es durch die Tasche nun eine Art Körperteil geworden. Der Begriff, der sicherlich satirisch gemeint ist, zeigt auf, wie sehr die Jugend mittlerweile von Smartphones beherrscht wird.
8) てまえどり (temae dori) – “Nehmen, was vorne ist”
“Nehmen Sie die Waren, die ganz vorne stehen”. So lautet der Aufruf von Supermärkten und Convenience Stores, um den Kauf von Lebensmitteln mit kürzerer Haltbarkeit anzuregen. Sie kennen es sicherlich auch: Sie nehmen sich nicht die Milch, die ganz vorne steht, sondern eine Packung aus den hinteren Reihen, da diese meistens länger haltbar sind. Auf diese Weise wollen die Geschäfte ihre Lebensmittelverschwendung reduzieren und ein Zeichen für Nachhaltigkeit setzen.
9) Yakult 1000
In Zeiten der Corona-Pandemie sind die Themen Gesundheit, Gesundheitsschutz und Prävention in aller Munde. Ein Produkt hat dabei besondere Aufmerksamkeit erlangt. Yakult ist ein Magermilchgetränk auf Basis eines speziellen Stamms von Milchsäurebakterien, der 1935 vom japanischen Wissenschaftler Shirota Minoru entwickelt wurde. Das Unternehmen wirbt dabei mit der Erhaltung eines gesunden Darms und der Immunabwehr. Yakult (vor allem das Produkt Yakult 1000) wurde zur Mangelware, da die Menschen sich verstärkt darauf stürzten.
10) 悪い円安 (warui enyasu) – “Schlechter schwacher Yen”
Für deutsche Reisende lohnt sich eine Japanreise wie schon lange nicht mehr, denn der schwache Yen sorgt für einen günstigen Wechselkurs (1 Euro = ca. 144 Yen, Stand 01.12.22). Ein schwacher Yen muss nichts Negatives sein, für die Wirtschaft ist er sogar etwas Gutes. So können davon z. B. die japanische Export- und Tourismusbranche stark profitieren. Doch für die japanischen Verbraucher*innen kommt er zum denkbar schlechten Zeitpunkt, gerade in Zeiten einer steigenden Inflation, in der Energie und Lebensmittel immer teurer werden. Während der schwache Yen also ausländische Touristen beglückt, bedeutet er für die japanische Bevölkerung mehr Belastung.
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