Jeden Tag machen wir in der Redaktion des JAPANDIGEST eine Presseschau. Heute staunten wir nicht schlecht, als zwischen den Berichten über Putins Japanbesuch und neue Konjunkturprogramme folgende Schlagzeile auftauchte:
„Mann festgenommen: Filmte sich, wie er Finger in Eintopf in Supermarkt steckt“
男を逮捕 コンビニおでんに指を入れた動画投稿
Dem Titel ist nicht viel hinzuzufügen. Ein 28-jähriger fasst in einem Supermarkt in der Präfektur Aichi wiederholt in eine Theke mit Oden-Eintopf-Einlagen. Dabei lässt er sich filmen und stellt das Video bei Twitter online.
Ganz klar eine soziale Grenzüberschreitung – aber eine vergleichsweise harmlose. Warum also bringen die Medien diesen Fall auf die Titelseiten?
Gefilmte Grenzüberschreitung als neues Phänomen
Nachrichten wie diese gehören in Japan zum Infotainment. Zwischen die Weltnachrichten zur japanischen Außenpolitik und Berichte über menschliche Brutalität schaffen es zur Auflockerung immer wieder solche halbwegs harmlosen Fälle.
Die Eintopf-Attacke gehört zu den „gefilmten und hochgeladenen Zwischenfällen“ (dōga appu jiken 動画アップ事件).
In den letzten Jahren wurden immer wieder Fälle öffentlich, in denen in Supermärkten und Restaurants Angestellte und Kunden in Eistruhen liegen, ein Bad in Burger-Frikadellen nehmen oder in Waschbecken sitzen. Dabei lassen sie sich ablichten und stellen das Beweismaterial in die sozialen Netzwerke.
Den Tätern reicht es dabei, eine indirekte Grenze zu überschreiten. Gegenstände werden zu Stellvertretern für Menschen. Dem Eintopf-Grabscher schien vor allem die Vorstellung zu gefallen, dass andere Kunden die Lebensmittel noch essen könnten. Der betroffene Supermarkt gab bekannt, die Theke aber sofort gereinigt zu haben.
Bei solchen Vorfällen kommt also niemand direkt zu Schaden – außer die Täter selbst, die in der Folge oft gefeuert oder festgenommen werden.
Grenzüberschreitung in Japan: Hochmut kommt vor dem Fall
Zwar machen Berichte über „gefilmte und hochgeladene Zwischenfälle“ die halb amüsante, halb schauderliche Grenzüberschreitung im Alltag zum Aufhänger, um für hohe Leserzahlen zu sorgen.
Es liegt aber in der Natur dieser Fälle, dass sie sich selbst auflösen. Die Grenzüberschreitung entsteht, indem Einzelne ihr Ego über ein konfliktloses Zusammenleben stellen. Noch dazu der Selbstdarstellungssucht zu folgen und Fotos und Videos der Tat in die sozialen Netzwerke zu stellen, ist – ein Glück für die Gesellschaft und die Medien – ein Schuss ins Knie.
Die Selbstbezogenheit der Täter wird ihnen zum Verhängnis: Das Hochladen der Fotos und Videos führt zu ihrer Überführung. Dem Ego, das sich gegen die Gesellschaft richtet, ist also die eigene Strafe immanent. Das gesellschaftliche Gefüge triumphiert letztendlich über das Unsoziale.
Ende gut, alles gut?
Brisant ist übrigens, wie der Eintopf-Täter identifiziert wurde: Seine Mutter sah das Video und ging zum Supermarkt, um sich für ihren Sohn zu entschuldigen.
Auch das ist eine ziemlich japanische Auflösung des Falls. Zwar übernimmt der Einzelne Verantwortung, vor allem sind aber die Eltern ob ihrer Erziehung für das Handeln der Kinder verantwortlich.
Zwischen den Nachrichten zur schwachen Wirtschaft und Hubschrauberabstürzen ist so ein Ende für die Leser natürlich tröstlich. Der Eintopf-Grabscher wurde festgenommen und wird nun sanktioniert. Die Ordnung ist wieder hergestellt.
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