Der kräftige, rote Kater mit dem kurzen Bobtailschwanz schaut scheu herüber. Für jeden Schritt, den wir näher kommen, geht er einige zur Seite. Er sieht, dass wir ihm aus dem 100 Yen-Shop Thunfisch-Happen mitgebracht haben. Wahrscheinlich ist er aber schon oft genug angelockt und dann getreten worden. Nur seine Nase hebt sich uns ein Stück entgegen. Dann huscht er unter ein parkendes Auto, wir verlieren ihn aus den Augen.
Straßenkatzen sind in vielen japanischen Städten ein Problem. Nachts kämpfen sie, schreien, werden von Autos angefahren und gelegentlich auch misshandelt. Viele von ihnen wurden ausgesetzt, noch mehr schon auf der Straße geboren. Nachwievor sind in Japan vor allem Rassetiere gefragt. Der Kontrast zwischen den sorgsam shampoonierten Golden Retrievern in den Hauseingängen und den ruppigen, einäugigen Katzenpiraten, die freie Parkplätze zum Sonnenbaden kapern, könnte nicht größer sein. Internetberühmtheit Maru ist ein Scottish Fold-Kater, unser kräftiger roter Kater ein roher Hauskatzenmix.
Neue Maßnahmen gegen Katzenplage
Sobald sich die Nachbarn über die Straßenkatzen beschweren, weil sie den Müll durchwühlen oder in die Blumen machen, werden die Tiere eingefangen. Bisher wurden sie zumeist eingeschläfert. 2015 waren das 67.091 Katzen, so das japanische Umweltministerium. Die Methode ist rigoros – und hat zwei Nachteile. Zum einen ist sie nicht effektiv. Wo eine Straßenkatze eingeschläfert wird, nimmt die nächste ihren Platz ein.
Zum anderen ist das Euthanisieren von Tieren nicht gut fürs Image. Mit Blick auf die 2020 in Tōkyō ausgetragenen Olympischen Spiele kündigte Koike Yuriko 小池百合子 in ihrem Wahlkampf zur Gouverneurin an, in Zukunft in der japanischen Hauptstadt keine Straßentiere mehr einschläfern zu lassen. Seit Juli diesen Jahres hat Koike den Posten der Gouverneurin inne, am 26. August nahm sie am Animal Welfare Summit in Tōkyō teil. Auch dort bekräftigte sie, dass Tōkyō auf keinen Fall noch länger die Metropole des Einschläferns sein könne.
In Japan tut sich also einiges in Sachen Tierwohl, auf Japanisch mit dem englischen Animal Welfare アニマルウェルフェア bezeichnet. Die sozialen Medien tragen dazu bei, dass die Problematik öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. So verbreitet sich auch ein neuer, nachhaltiger Ansatz, um das Straßenkatzenproblem zu lösen: Sterilisieren statt einschläfern.
Katzen können im Jahresverlauf mehrere Würfe haben und so Dutzende Nachfahren in die Welt setzen. Da hilft es wenig, einzelne Tiere einzuschläfern, wenn die nächsten bereits Schlange stehen. Sinnvoller ist es, die Tiere an der Fortpflanzung zu hindern. Dazu werden sie eingefangen und kastriert oder sterilisiert. Diese Katzen und Kater belegen danach ihre angestammten Territorien und hindern so andere Streuner daran, ihre Plätze einzunehmen. Durch das sogenannte Trap-neuter-return (TNR) kann die Straßenkatzen-Population langristig reduziert werden. National setzt sich das Bewusstsein für diese Möglichkeit in Japan erst in den letzten Jahren durch, lokal gibt es aber bereits länger solche Bemühungen.
Besonders wichtig ist es, Hilfsorganisationen, Stadtverwaltungen und Tierärzte zusammenzubringen. In Kumamoto auf der westlichen Hauptinsel Kyūshū gibt es beispielsweise das Projekt Box Ryunosuke. Tierarzt Ryūnosuke Tokuda 徳田竜之介 fing zusammen mit freiwilligen Helfern Mitte November etwa 2000 Streuner im Stadtgebiet Kumamotos ein und kastrierte sie. Für jedes dieser Tiere zahlte die Stadtverwaltung von Kumamoto einen Beitrag von 5000 Yen (etwa 42 Euro). Dieses Modell trägt in Kumamoto Früchte: 2016 mussten bisher nur 14 streunende Katzen eingeschläfert werden, alle aus medizinischer Indikation.
Unglückliche Ursachen für Streuner
Veterinär Tokuda machte bereits Anfang Oktober Schlagzeilen in der japanischen Presse, als er eine Petition mit mehr als 30.000 Unterschriften bei der Regierung einreichte. Darin forderten er und seine Unterstützer, dass in Zukunft in Katastrophenfällen auch die Evakuierung von Haustieren gewährleistet werden müsse. Tokuda selbst hatte nach dem starken Erdbeben, das am 14. April 2016 viele Gebäude in Kumamoto beschädigte, rund 1000 Evakuierte mit insgesamt über 2000 Haustieren – vom Hund bis zur Schildkröte – in seinem Tierkrankenhaus untergebracht. Reguläre staatliche Notunterkünfte verbieten Haustiere.
So gibt es in den japanischen Städten einerseits eine Population streunender Katzen, die durch wilde Vermehrung und gelegentliches Aussetzen entsteht und im ungünstigsten Fall wächst. Andererseits gibt es vor allem in den Sperrgebieten um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi und in den darum liegenden Bereichen, in denen viele Menschen nachwievor in Notunterkünften leben, viele Tiere, die unfreiwillig durch ihre Besitzer zurückgelassen werden mussten. Hier besteht die Gefahr, dass es ohne Maßnahmen zu einer Plage durch streunende Katzen kommen könnte. Auch hier sind Tierschutzorganisationen bemüht, die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Problem zu lenken – bei weitem aber nicht so erfolgreich wie auf das Problem der Stadtkatzen.
In der Präfektur Chiba versucht sich die Stadt Urayasu beispielsweise an einem Pilotprojekt, das so in den Sperrgebieten kaum denkbar wäre. Hier gibt es eine App, in die Streuner eingetragen werden können. 164 Freiwillige helfen dabei, Fotos der Katzen und Informationen zu deren Bewegungsradius in die Datenbank einzupflegen. Die App hilft nicht nur dabei, einen Überblick über die Population zu erhalten und neue Streuner schneller einer Kastration zuführen zu können. Das langfristige Ziel soll es sein, die Katzen über ihre Profile auch an neue Zuhause vermitteln zu können.
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