Jahrzehntelang schwirrte der Name Johnny’s (oder auf Japanisch ジャニーズ, janiizu) durch alle Fernsehkanäle und vor allem durch Musiksendungen: Die vom 1931 in Los Angeles geborenen John Hiromu Kitagawa – Spitzname Johnny – produzierten Bands dominierten den Markt männlicher J-Pop-Künstler wie sonst niemand. Die jungen Künstler der Talentagentur Johnny & Associates konnten alle gut tanzen und singen, vor allem synchron, und sorgten bei Heerscharen von Fans vieler Generationen für Begeisterung.
Dass der unermüdliche Johnny Kitagawa das Ganze nicht nur für Ruhm und Geld machte, war dabei schon lange ein offenes Gerücht. Schon vor seinem Tod im Jahr 2019 wurde gemunkelt, dass der Meister selbst die eine oder andere Affäre mit seinen Schützlingen hatte – euphemistisch gesagt, denn es ging um sexuellen Missbrauch. Es gab Zeitungsartikel und sogar Gerichtsprozesse, die Kitagawa jedoch auf wundersame Art und Weise gänzlich unbeschadet überstand.
Ein offenes Geheimnis, doch die Medien schwiegen
Als Kitagawa im Juli 2019 im Alter von 87 Jahren verstarb, versammelten sich zwei Monate später 154 Künstlerinnen und Künstler, die meisten bei Johnny & Associates unter Vertrag, im legendären Tokyo Dome zu einem großen Gedenkkonzert. Doch selbst nach seinem Tod schafften es weder die japanischen Medien, noch die Agentur selbst, die Skandale in ihrer Gesamtheit ans Licht zu bringen. Zu negativ schienen die Konsequenzen – zahlreiche Artikel blieben ungedruckt oder wurden gar nicht erst recherchiert, da die Verlage um ihre Rechte bezüglich Johnny & Associates und deren beliebte Künstler fürchteten.
Und so bedurfte es erst einer ausländischen Reportage, um das Schweigen zu brechen: Im März 2023 erschien die von der BBC produzierte Reportage “Predator: The Secret Scandal of J-Pop”. Einen Monat später, das Interesse der Medien war nun geweckt, berichtete das ehemalige Johnny’s Jr.-Mitglied Okamoto Kauan von jahrelangem Missbrauch durch Kitagawa vor dem Foreign Correspondents’ Club of Japan.
Erst Okamotos Pressekonferenz trat eine gewaltige Lawine los: Bis Ende September 2023 berichteten sage und schreibe 478 Personen von sexuellen Übergriffen durch Kitagawa. 325 von ihnen meldeten Schadensersatzansprüche an, von denen bisher mehr als 150 der Talentagentur zugeordnet werden konnten. Der Missbrauch begann oftmals schon bei 12- bis 13-jährigen und hielt für viele Opfer jahrelang an. Es ging also um systematische Übergriffe und einem unglaublich großen Dickicht des Schweigens.
Schadensbegrenzung um jeden Preis
Beteuerungen des jetzigen Agenturvorstandes – allen voran Kitagawas Nichte und bis September noch Präsidentin von Johnny & Associates, Fujishima Julie Keiko -, von all dem nichts gewusst zu haben, wirken da sehr unglaubwürdig. Johnny & Associates versprach lückenlose Aufklärung und finanzielle Entschädigung für die Opfer, doch der Skandal weitete sich immer weiter aus. So wurde zum Beispiel bei einer Pressekonferenz deutlich, dass die Organisatoren dieser schwarze Listen mit sich führten, auf denen vermerkt war, welche Journalisten bewusst ignoriert werden sollten. Auch das hatte bei der Agentur System – bis 2018 war es jedem streng verboten, Fotos der Talente zu veröffentlichen, weder online noch in Zeitungen. Sie übte eisernen Druck auf die Presse aus und verbot sogar die Annahme von Musikpreisen, um ja nicht die Kontrolle zu verlieren.
Nachhaltiger Auswirkungen auf alle Betroffenen
Der Fall wurde zum Sumpf. Missbrauchsopfer wurden teilweise im Internet verhöhnt und das Unternehmen beziehungsweise das ganze Unternehmensnetz begann im Oktober damit, den Namen “Johnny” aus allen offiziellen Bezeichnungen zu entfernen. Aus Johnny & Associates wurde so “Smile Up”, auch andere Firmen benannten sich um. Trotzdem sprangen zahlreiche Sponsoren ab, viele Künstler verloren so ihre Lebensgrundlage. Beim beliebten Kōhaku Uta Gassen-Neujahrskonzert beim öffentlich-rechtlichen Fernsehsender NHK treten traditionell zahlreiche von Johnny’s-Gruppen auf – Ende 2023 wird es erstmals seit Jahrzehnten keine einzige Gruppe der Talentagentur geben.
In diesem Missbrauchsskandal haben alle verloren – außer Johnny Kitagawa, der wie eingangs erwähnt nie belangt wurde. Vor allem aber sind die japanischen Medien die großen Verlierer. Japan rangiert bei der Pressefreiheit im weltweiten Vergleich auf einem beschämenden 68. Platz, und der Fall Johnny offenbarte die ganze Misere: Die Presse duckt sich im vorauseilenden Gehorsam vor der Politik und vor mächtigen Organisationen.
Auch die Künstler werden nachhaltig darunter leiden, denn ihnen haftet nun ein möglicherweise Karriere-beendendes Stigma an. Oder wie es Iida Kyōhei der Johnny’s-Band Kis-My-Ft2 passend ausdrückte: “Obwohl ich ein Opfer war, habe ich das Gefühl, dass ich durch mein Schweigen andere (Missbrauchs-)Opfer hervorgebracht habe”. Die betroffenen Künstler hatten schließlich ebenfalls viel zu verlieren – wer sich beklagte, flog raus und konnte dank Johnny’s Macht und Einfluss nie mehr Fuß in der Musikbranche fassen.
Es bleibt also abzuwarten, wie “Smile Up” weiter mit dem Skandal umgehen wird und wie nachhaltig das Image der Künstler sowie der Agentur in der japanischen Gesellschaft und Musikbranche geschädigt wurde.
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