Egal wo man sich auf der Welt befindet: Nimmt man am täglichen Leben teil, wird man es kaum vermeiden können, sich hin und wieder in einer Schlange anzustellen. Sei es beim Einkaufen an der Kasse, in öffentlichen Behörden, vor Großveranstaltungen oder bei Dienstleistern wie Banken – fast überall hat sich die informelle gesellschaftliche Norm des Schlangebildens durchgesetzt. Hier heißt es dann fast immer: „Wer zuerst kommt, malt zuerst.“ Auch in Japan gibt es eine landeseigene Version dieser Redewendung: „hayai mono gachi.“ Wörtlich übersetzt bedeutet der Satz so viel wie „Die frühe Person gewinnt.“
Hat man Japan bereits einmal bereist, wird einem sicherlich aufgefallen sein, welch großen Stellenwert das sich ordentliche Anstellen in einer Wartelinie genießt. Ein einfaches Beispiel hierfür ist im Alltag des öffentlichen Nahverkehrs zu finden. Während sich hierzulande die Menschenmengen links und rechts neben den sich öffnenden Türen von Bussen und Bahnen zusammenknubbeln und eifrig auf die letzte aussteigende Person warten (um dann eilig mit der Hoffnung auf einen Sitzplatz in den Wagen zu stürmen), geht das Szenario in Japan um einiges geordneter von statten: Bevor sich die Türen öffnen und der Kampf um die begehrten Sitzplätze beginnt, werden zunächst Schlangen gemäß auf dem Boden markierter Zonen gebildet. Da die Bus- und Zugführer es schaffen, die Wartebereiche so anzufahren, dass diese sich stets unmittelbar neben den Türen befinden, entfällt in Japan auf diese Weise das bei uns täglich zelebrierte Türenbingo des öffentlichen Nahverkehrs.
Der Reiz der Warteschlangen
Die generelle Bereitschaft der Japaner, auch längere Schlangen gerne in Kauf zu nehmen, zeigt weiterhin eine Umfrage der Monitoring-Agentur Research-Plus aus dem Jahr 2016. Von den 760 befragten Erwachsenen mittleren Alters gaben mehr als 70 % an, schon einmal länger als eine Stunde in einer Schlange gewartet zu haben. Knapp 30 % waren sogar bereit, Wartezeiten von zwei Stunden und mehr in Kauf zu nehmen. Die Frage nach der Zufriedenheit mit dem Ergebnis ihres längsten Schlangensteherlebnisses bewerteten immerhin 82,1 % der Umfrageteilnehmer mit neutralen bis positiven Antworten. Ferner behaupteten beinahe 64 %, beim Anblick einer Schlange wenigstens kurz stehen zu bleiben und sich nach dem Ursprung des strukturierten Menschenstaus umzusehen. Weitere 24,6 % der Befragten bekundeten beim Anblick der Schlange zwar Interesse, seien aber nicht bereit, der Sache nachzugehen.
Eben auf jene spezifische Neugier nach dem Ursprung einer Menschenschlange setzte 2008 auch eine Zweigstelle einer großen US-amerikanischen Fastfoodkette, als sie die Einführung eines neuen Artikels auf besondere Weise bewarb: Rund 1.000 der insgesamt 15.000 Kunden waren am Einführungstag indirekt von dem Fastfoodunternehmen engagiert worden, um die augenscheinliche Beliebtheit des neuen Produkts zu steigern und so das Interesse der Laufkundschaft auf sich zu ziehen. Die im Namen des Unternehmens von einer Werbeagentur beauftragten Schlangesteher bekamen einen Stundenlohn von 1.000 Yen sowie die Kosten für den Erwerb der neu erschienenen Mahlzeit erstattet.
Das Business rund ums Schlangestehen
Die Nachfrage nach bezahlten Schlangestehern ist in Japan sogar so hoch, dass einige Firmen diese Marktnische für sich entdeckten. Nicht nur Unternehmen heuern auf diese Weise professionelle Schlangesteher an, auch Privatpersonen nehmen vermehrt derartige Dienstleistungen in Anspruch. In solchen Fällen senden die sogenannten benriya ihre Angestellten aus, die Plätze in Schlangen ihrer Auftraggeber einzunehmen oder zu ergänzen.
Die Aufgabenfelder der Schlangesteher sind dabei genauso mannigfaltig wie die Gründe für Menschenschlangen: Manche Dienstleister werden engagiert um zur Mittagszeit einen Sitzplatzplatz in einem beliebten Rāmen-Shop zu ergattern. Andere wiederrum werden beauftragt, mengenbegrenzte Luxusartikel zu ergattern, indem sie mitunter mehrere Tage vor Ladengeschäften Schlange stehen, um für den Kunden so die begehrten Kleidungsstücke, Tickets oder Elektrogeräte zu erwerben.
Vermehrt bieten die benriya aber auch in außergewöhnlicheren Situationen ihren Service an. Beispielsweise ist es nicht mehr selten, dass die Schlangesteher auch als „Ersatzonkel“ herhalten. Hintergrund ist in diesem Fall die Praxis vieler japanischer Kindergärten und Kitas, nur persönliche Bewerbungen von Familienmitgliedern des Kindes nach dem first-come-first-served-Prinzip des hayai mono gachi zu akzeptieren.
Da vor allem berufstätige oder alleinerziehende Eltern nicht in der Lage sind, sich in die teils mehrtägig währenden Warteschlangen vor den Einrichtungen einzureihen, bleibt ihnen oft kein anderer Ausweg, als die Hilfe der professionellen Schlangesteher in Anspruch zu nehmen. Wie begehrt manche Vorschulplätze sein können, demonstriert der Bericht des benriya-Angestellten Miyauchi Hiroshi, in einem Interview mit der Japan Times. In diesem gibt er zu, einmal bereits fünf Tage, rund um die Uhr, im Schichtdienst mit seinen Kollegen in einer Schlange gestanden zu haben, um sich am Ende als Onkel des Kindes seiner Auftraggeber auszugeben. Diese hatten ihn engagiert, um die Bewerbung in der Kita einzureichen.
Die japanische Mentalität als Grundlage der Anstellkultur
Doch nicht nur das seit Jahren bestehende chronische Unterangebot an Früherziehungsplätzen sorgt für lange Schlangen vor den Einrichtungen. Kernkompetenzen der japanischen Gesellschaft wie Selbstdisziplin, Respekt, Etikette und Zusammenarbeit, werden den Kindern bereits ab der Vorschule vermittelt und können als eine Hauptursache dafür gesehen werden, warum der Durchschnittsjapaner dazu geneigt ist, auch längere Schlangen und Wartezeiten zu tolerieren. Da die Kinder bereits früh lernen, existierenden Regeln zu folgen, in Gruppenarbeiten und -aufführungen reibungslos zusammenzuarbeiten und sich in Geduld zu üben, fällt es ihnen später auch leichter, diese Tugenden in Alltagssituationen anzuwenden.
Sogar in Krisenzeiten, wie etwa nach der Dreifachkatastrophe von Fukushima, zeigte die vom Unglück getroffene Bevölkerung, wie tief diese gemeinschaftlichen Aspekte in der japanischen Kultur verankert sind. Trotz anfänglich gering verfügbarer Notvorräte an Wasser, Lebensmitteln, Kleidung und Unterkünften gab es nur wenige Situationen, in welchen die Menschen sich nicht ordentlich und systematisch in einer Schlange aufstellten und geduldig darauf warteten, die Hilfsgüter in Empfang nehmen zu können.
Ferner sorgen der Anspruch, ein besonders gepflegtes und hochwertiges Bild der eigenen Person nach außen zu tragen sowie die gesellschaftlich hochgeschätzte Konformität dafür, dass der Akt des Schlangestehens als eine Art Performance genau dieser Werte aufgefasst wird. Wer schließlich die Geduld und die Zeit aufwenden kann, stundenlang in einer Schlange zu warten, um den gefühlt besten Service oder die vermeintlich hochqualitativsten Güter erwerben zu können, demonstriert auf diese Weise ein anspruchsvolles und zielgerichtetes Niveau unter gleichzeitiger Anerkennung und Wertschätzung gesellschaftlicher Normen.
„Typisch japanische“ Lösungen zur Erleichterung des Schlangestehens
Neben dem Auftreten der professionellen Schlangesteher benriya, entwickelten sich zudem weitere Strategien, das Warten in einer Schlange angenehmer zu gestalten. Wollen z.B. Fans von Fußball und Rugbyspielen aus Kōbe im Stadion hōmu sutajiamu Tickets kaufen, finden diese sich etwa nicht zur Sicherung guter Plätze frühmorgens am Verkaufstag vor dem Veranstaltungsort ein. Stattdessen stecken die Fans bereits Tage zuvor ihre Standplätze mit Klebestreifen ab. Auf diesen vermerken sie dann ihren Namen und ihre Anstellnummer in der kommenden Schlange. Auf diese Weise sparen sie sich das stunden- oder tagelange Warten vor Verkaufsbeginn der Tickets für besonders begehrte Matches.
Als weiteres Novum stellte der japanische Automobilhersteller Nissan vor ein paar Jahren selbstfahrende Stühle vor, die die Wartezeit vor Restaurants oder anderen Einrichtungen erleichtern sollen. Die Funktionsweise ist gleichermaßen simpel wie faszinierend: Steht die vorderste Person in der Warteschlange auf, um den im Geschäft freigewordenen Platz einzunehmen, fährt der leergewordene Stuhl von alleine an das Ende der Schlange. Gleichzeitig rücken alle anderen automatisierten Stühle samt ihren Passagieren einen Platz auf. So lässt es sich auch mit leerem Magen gerne warten.
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