„Skandalshow: Kleinkind allein in der Großstadt“ – Schlagzeilen wie die der Berliner Morgenpost vom 8. Mai 2022 las man plötzlich, dazu Kommentare entsetzter Kinderpsychologen und entrüsteter Eltern. Wie kann man Kleinkinder, die gerade erst gelernt haben zu laufen und zu sprechen, allein auf die Spur schicken – dazu auch noch in einer Großstadt? Wofür man anderswo (sagen wir es offen – den USA) verklagt werden würde, das sorgt in Japan, dem Heimatland der weltweit unter dem Titel „Old Enough“ (jap. Hajimete no otsukai) ausgestrahlten Serie, nicht einmal für Stirnrunzeln. Man versteht die Aufregung nicht, und das hat gute Gründe.
Feste Routen in sicherer Nachbarschaft
Zur Beruhigung sollte man vielleicht erstmal einwerfen, dass die Kinder in der Show nicht mutterseelenallein sind. Ganz offensichtlich ist ein Fernsehteam permanent anwesend, das natürlich einschreiten würde, wenn etwas schiefliefe. Tatsächlich steht gefühlt alle fünf Meter ein Erwachsener, ob mit oder ohne geschickt getarnter Kamera, der ein Auge auf sie hat – was mitunter sogar zu herrlicher Situationskomik führt, wenn selbst die Kleinen die vielen fremden Personen bemerken, die sie beobachten.
Natürlich schicken auch nicht alle japanischen Eltern ihre Kinder mit drei Jahren los, um Einkäufe zu erledigen. Allerdings ist es in Japan zum Beispiel Eltern untersagt, ihre Kinder zur Schule zu begleiten: Selbst frischgebackene Erstklässler laufen in Japan allein zu Schule, wobei das nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Eltern müssen die Route nämlich aufzeichnen und in der Schule einreichen, und den Kindern wird eingebläut, auf dem vorgezeichneten Weg zu bleiben. Außerdem rotten sich die meisten Kindern natürlich unterwegs zusammen, sie sind also selten tatsächlich allein.
In Japan ist es durchaus üblich und gewollt, die Kinder recht früh nach draußen zu schicken. Doch wer bei der Sendung gut aufpasst, wird dabei schnell eines feststellen: Bei den meisten Drehorten handelt es sich um kleine, eingeschworene Nachbarschaften in sehr häufig ländlichen Gegenden, wo jeder auf jeden aufpasst, und wo die Kinder bekannt sind. Ein auch nur leicht verdächtig aussehender Fremder kommt da schnell „unter Beobachtung“ und wird durchaus mal der Polizei gemeldet. Die Gefahr, dass da ein Kind Opfer eines Verbrechens wird, egal ob mit Kamerateam im Schlepptau oder nicht, ist gering. Die einzige Sorge ist eher, dass das Kind in einen Verkehrsunfall verwickelt wird, und diese Gefahr ist in einem Land, in dem Bürgersteige eher eine Seltenheit sind, durchaus real. Man schickt deshalb logischerweise die Kinder nicht über die Hauptstraße oder in große Einkaufszentren, sondern in kleinere Läden von nebenan.
Unterschiede in der Erziehung
Der Unterschied in der Erziehung wird hier vor allem im Vergleich mit den USA deutlich. Während man Kindern in den USA eintrichtert, dass die Gesellschaft draußen rau und lebensbedrohlich ist, sollen Kinder in Japan lernen, dass man nur in der Gesellschaft gut zurechtkommen kann – solange man sich an die Regeln hält. Kinder sollen so die Angst vor der “Gesellschaft da draußen” verlieren, und diese Erziehung sorgt letztendlich zu einem guten Stück dafür, dass die japanische Gesellschaft im weltweiten Vergleich als äußerst sicher und ungefährlich angesehen wird.
Leider kommt es natürlich auch in Japan zu schlimmen Vorfällen – der Fall eines dreijährigen Mädchens, welches 2011 allein auf eine Toilette in einem Supermarkt in Kumamoto ging und dort von einem fremden Mann ermordet wurde [1], traf die Bevölkerung ins Mark. Natürlich bekamen die meisten Eltern Angst davor, ihre Kinder auch nur einen Moment aus dem Auge zu lassen. Man darf deshalb nur hoffen, dass solche Einzelfälle die Menschen nicht in eine Spirale aus Angst und Misstrauen abstürzen lässt. “Old Enough” ist eine ziemlich reale Serie, die auf sehr niedliche Art zeigt, wie Gesellschaft funktionieren kann. Und das bleibt hoffentlich auch so.
[1] https://japantoday.com/category/crime/child-killer-loses-appeal-over-life-sentence
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