Das japanische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales veröffentlicht jährlich Zahlen zur Obdachlosigkeit in Japan. Der Pressebericht von April 2024 beziffert 2.820 Personen im Land als obdachlos. 1 Die Tendenz der Zählung ist seit Beginn rückläufig, am Höhepunkt im Jahr 2003 betrug die Zahl 25.269 Obdachlose. Für ein Land mit über 125 Millionen Einwohnern immer noch eine glanzvolle Zahl. Zum Vergleich: In Deutschland – mit über 84 Millionen Einwohnern – gelten 262.600 Menschen als wohnungslos. 38.500 davon schlafen auf der Straße, gelten also als obdachlos. Das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) veröffentlicht hierzu alle zwei Jahre einen Bericht. Funktioniert der japanische Sozialstaat also effizienter oder wie können diese Zahlen interpretiert werden?
Sprache als Spiegel der Gesellschaft
Gemäß dem „Gesetz über besondere Maßnahmen zur Unterstützung der Selbstständigkeit von Obdachlosen“ aus dem Jahre 2002 wird der Begriff „Obdachloser“ in Japan wie folgt definiert:
„Personen, die Stadtparks, Flussufer, Straßen, Bahnhöfe und andere Einrichtungen ohne Grund als Wohnsitz nutzen und ihr tägliches Leben dort führen.“
Zu den gängigen Bezeichnungen für Obdachlose gehören primär hōmuresu (ホームレス , abgeleitet von engl. „homeless“), aber auch Begriffe wie furōsha (浮浪者, „wandernde Person“), kojiki (乞食, „Bettler“) oder runpen (ルンペン, abgeleitet vom deutschen Wort „Lumpen“). In jüngster Zeit werden weiterhin nojukusha (野宿者, „Person, die draußen schläft“) und nojuku rōdōsha (野宿労働者, „Arbeiter, der draußen schläft“) verwendet, um negative Konnotationen zu vermeiden. Insbesondere der letzte Begriff gibt einen Einblick in die Realität der prekären Kurzarbeit in Japan, welche es den Arbeitnehmenden nicht ermöglicht, sich eine Wohnung und gesellschaftliche Teilhabe zu leisten.
„Der herausstehende Nagel wird eingeschlagen“
出る釘は打たれる
Deru kugi wa utareru
Das Ideal einer kollektivistischen Gesellschaft wie Japan und dessen Effekte sind für individualistisch geprägte Menschen vielleicht schwer zu fassen. In der japanischen Gesellschaft wird man tendenziell dazu herangezogen, im Sinne der Gemeinschaft zu denken und zu handeln. Gleichheit sei eine Tugend: Das oben genannte japanische Sprichwort wird verwendet, um diese Idee zu visualisieren. Die Gemeinschaft ist es, die Identität stiftet. Eine persönliche Ausrichtung, ein „individuell sein“ wird selten gefördert, es sei denn, man kann damit eine neue Gruppe, etwa eine Firma oder Familie, zur Stabilisierung der gesamten Gemeinschaft schaffen. Obdachlose fallen aus diesem Ideal und die visuelle Konfrontation mit ihrem Scheitern soll der Gemeinschaft daher nicht zugemutet werden. Sie werden im öffentlichen Raum als störend empfunden, so dass es zu immer mehr Maßnahmen kommt, sie aus urbanen Gebieten zu verdrängen.
Geschönte Statistik
Anlass zur gesunden Skepsis über Regierungsmaßnahmen gibt die Methode der Zählung, auf der langfristige Pläne basieren. Gezählt werden Obdachlose vorrangig in öffentlichen Parks und unbebauten Flusspromenaden, wie sprachlich offiziell definiert. Selbst wenn man unterstellt, dass die Zahl der Obdachlosen in urbanisierten Räumen zu vernachlässigen sei, so werden lediglich Personen gezählt, die beim Kontrollbesuch auch anwesend sind und ihren „Wohnort“ tagsüber nicht verlassen. Dies spiegelt in keiner Weise moderne Phänomene der Metropolen wider.
Mit dem Wandel von Städten wandeln sich auch ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Als Beispiel können hier sogenannte „Cyber-Obdachlose“ genannt werden. Diese Gruppe hat die Anonymität einer japanischen Großstadt perfektioniert und sucht in günstigen 24-Stunden-Manga-Cafés, Internet-Cafés, Supermärkten, Spielhallen oder sonstigen Einrichtungen Zuflucht. Sie tauchen daher nicht in der offiziellen Definition der Obdachlosen auf.
Frauen auf der Straße
Obdachlosigkeit ist auf den ersten Blick in allen Ländern ein männerdominiertes Phänomen und auch die offiziellen Zahlen in Japan geben 2.575 Männer und gerade einmal 172 Frauen an (73 unbekannten Geschlechts). Die unterschiedlichen sozialen Gegebenheiten sollten hier jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Das Schlafen auf der Straße bedeutet für Frauen eine höhere Gefahr vor Übergriffen und so haben sie andere Bewältigungsstrategien entwickelt. Obdachlose Frauen entsprechen in vielen Ländern schlicht nicht der offiziellen Definition und bleiben somit unsichtbar. Anstatt auf der Straße zu schlafen, wandern sie die ganze Nacht umher und gehen eher das Risiko ein, Zuflucht in Wohnungen anderer zu suchen – zumeist Männern. Anstatt optisch aufzufallen, passen sie sich oft an, nutzen beispielsweise Einkaufszentren oder andere vorhandene kostenlose Zugänge zur Gesellschaft, um möglichst unauffällig zu existieren. Dabei werden Frauen von der Umgebung nicht als potenzielle Gefahr wahrgenommen und eher in öffentlichen Räumen geduldet.
2024 wurden von Hilfsorganisationen und örtlichen Behörden Statistiken für England veröffentlicht, die bei der Zählung bewusst auf Unterschiede zwischen Männern und Frauen geachtet haben. Die erschreckende Erkenntnis: Die tatsächliche Zahl von Frauen ohne Obdach liegt neunmal höher als von der Regierung angegeben.2 Die Forschenden sind dabei der Einschätzung, dass die tatsächliche Zahl noch weitaus höher liegt und plädieren für eine Änderung der staatlichen Strategien.
Reale Herausforderungen
Ein ähnliches Bild dürfte sich auch in Japan und anderen Ländern zeigen, doch es fehlt an aussagekräftigen Daten. Ohne diese ist es schwer, das Problem der Obdachlosigkeit greifbar zu machen und aufzeigen zu können, warum die breite Bevölkerung dies überhaupt als Missstand wahrnehmen sollte. Insbesondere in Sozialstaaten wie Japan wird die Meinung vernommen, dass es schon Unterstützung von der Gemeinschaft in Form von Sozialleistungen gäbe. Dies stimmt auch – nur ist der Zugang zu solchen Leistungen nicht immer sinnvoll, in manchen Fällen führt das gesamte System sie sogar ad absurdum. Ein prägendes Beispiel für Japan: Für eine Jobbewerbung braucht es eine Meldeadresse sowie Telefonnummer. Für die Telefonnummer braucht es eine Meldeadresse. Ein Teufelskreis, der die Hilfe von Familie oder Freunden voraussetzt (welche vielen Obdachlosen nicht zur Verfügung steht), um daraus zu entkommen.
Auch bestimmen Scham, Angst sowie Schuldgefühle den Alltag vieler Betroffener. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen wird bewusst abgelehnt, denn man möchte der Gemeinschaft nicht zur Last fallen und erhält sich damit zumindest seinen Stolz. Diese komplexe Thematik von Armut wird in Zukunft wohl eine lautere Stimme einnehmen müssen: Der demographische Wandel, mit einer überalternden, schrumpfenden Bevölkerung, stagnierende Löhne, steigende Lebenskosten und Altersarmut fordern das System zum Umdenken auf.
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