Wir gehen freitagabends ins Jazz Spot J in Shinjuku. Die Jazzszene in Tōkyō sei unglaublich, sagt meine Begleitung, vielleicht nur New York noch besser. Ich habe die Karten online reserviert, das ging nur auf Japanisch. Um 19 Uhr geht es schon los.
Das Trio besteht aus Japanern, der Pianist Ōno Yūji 大野 雄二 ist berühmt, weil er in den 80ern alle Tracks für die Anime-Serie Lupin III (Rupan sansei ルパン三世) komponierte. Vor seinem schwarzen Yamaha-Flügel ein Notenständer, darauf die CDs mit den Soundtracks. An den Wänden Katzen mit topasblauen Meerjungfrauenschwänzen, gemalt in Ölkreide, die Künstlerin trägt hohe Wangenknochen und einen noch höheren Dutt. Wir sind die einzigen ausländischen Gäste.
Der Laden wirkt ein wenig heruntergekommen, offenliegende Metallrohre unter der Decke, flache, fahlgoldene Sessel ohne Rückenlehnen und niedrige Tische im engen Raum verteilt. Sobald alle sitzen, hat die Bedienung Probleme, bis zur Bühne vorzudringen. Ganz typisch, der Laden, wie in den USA, sagt meine Begleitung, dafür sei das Publikum sehr loyal. Wer Jazz hören wolle, würde auch extra dafür anreisen.
Gegenüber teilt sich ein Ehepaar eine halbe Pizza mit Stäbchen. Sie nehmen erst die münzgroßen Salamistücke herunter, dann den fadenziehenden, hellen Käse, schließlich klappen sie die Teigdreiecke zusammen. Meine Begleitung sähe im Alter gerne aus wie der Mann neben uns. Der 70-jährige trägt einen beeindruckenden weißen Schnurrbart und einen mittelgrauen Anzug, eine gelungene Mischung aus Tom Selleck und Kaiser Hirohito in den frühen 80ern. Unser Martini kommt mit gefüllter Olive in den winzigsten Gläsern. Rauchen ist verboten, was schade ist, sagt meine Begleitung, zu Jazz sollte man rauchen. Jetzt kommen die Musiker.
Jazz ist in Japan überall: Am Flughafen, in Restaurants, in Cafés, in Buchläden, auf den Toiletten der Malls als Hintergrundmusik. Nicht nur Jazz, sagt meine Begleitung mehrmals, Bebop. Bebop ist weniger formal, bietet mehr Raum für Improvisationen und klingt nicht jederzeit gefällig. Auch seichter Pop wird in Japan zum Einkaufen gespielt, aber der Jazz ist eindeutig in der Überzahl.
Jazz ist auch im literarischen Japan: Schriftsteller Murakami Haruki 村上春樹 setzt der Musikrichtung in seinen Werken Denkmäler. Der Protagonist aus Gefährliche Geliebte (Kokkyō no minami, taiyō no nishi 国境の南、太陽の西) führt beispielsweise einen Jazzclub – wie Murakami selbst, der von 1974 bis 1982 das Peter Cat in Tōkyō betrieb. Wer Locations wie das Jazz Spot J besucht, kann sich den Autoren lebhaft hinter dem Tresen vorstellen.
Drei Abende zuvor waren wir in der New York Bar im Hotel Park Hyatt in Shinjuku. Hier drehte Sofia Coppola vor dreizehn Jahren Lost in Translation. Ihre New York Bar wirkte samtig, weich; unsere hat wegen des schwarzen Marmors eine harte Qualität. Trotzdem vermissen wir Bill Murray, wir suchen seine Silhouette am Eckplatz des freien Tresens.
Die Nachwehen von Taifun Nr. 16 hängen über der Metropole. Mal können wir bis zum Stadtrand sehen, mal nur bis zum dunkel an den Boden geduckten Park des Meiji-Schreins. Immerhin, gestern noch soll der Regen waagrecht gegen die Fenster im 52. Stock gepeitscht haben. Wir sitzen in der zweiten Reihe, was wir wegen der Aussicht erst schade, dann aber fantastisch finden, sobald die Band spielt.
Im Park Hyatt gibt es jeden Abend ab spätestens 20 Uhr Jazz, die Musiker sind international, meistens aus den USA. Jeden Sonntag bietet das Format UNPLUGGED japanischen Musikern eine Bühne.
Meist gibt es Classic Jazz. Die Raumakustik ist nicht optimal, der hohe Raum mit der Mosaikwand und den Spiegeln erzeugt viel Hall. Aber das Publikum ist ohnehin nur selten wegen der Live-Musik hier, die Musiker spielen gegen Bill Murray und Scarlett Johansson an. Nicht umsonst informiert die Homepage des Hotels darüber, dass in der Bar angemessene Kleidung erwartet werde. „Thank you, I could really feel your enjoyment”, sagt uns der Pianist nach dem ersten Set. Am Ende des Abends werden meine Begleitung und ich von Sängerin Joy Voeth ausgiebig gedrückt.
Es gibt eine unbezifferbare Nummer an Jazz Bars in der Hauptstadt, viele in besten Lagen, auch die kleinen. Die Jazzszene scheint zweigeteilt nach der Größe der Bars, entfaltet sich dafür aber umso diverser. Da ist die Bar in Asakusa, die nur an zwei Tagen (und nicht immer denselben!) in der Woche ihre 20 Quadratmeter öffnet, und nach deren Verlassen man nach dem süßlichen Rauch der Yakitori-Hühnchenspieße duftet. Sie hat keinen Namen, nur ein Smiley-Gesicht an der Eingangstür, und die immerselben Musiker spielen aus Leidenschaft bis in die Morgenstunden. Da ist das Blue Note, ein Ableger der gleichnamigen New Yorker Location in Aoyama, das am Wochenende hunderte Gäste anzieht. Dort tritt die internationale Jazz-Elite zu professionellem Lamb Loin served with Sauteed Mushrooms auf. Das Jazz Spot J mit seinen japanischen Musikern hier, die New York Bar mit der internationalen Besetzung dort. Die einen spielen schon lange zusammen, die anderen treffen sich für ein paar Sets und gehen dann wieder auseinander, bezahlt vom Hotel. Die einen spielen, weil sie eine starke Resonanz bekommen, die anderen, weil nicht weniger als ihre Qualität für eine renommierte Hotelbar denkbar ist.
Im Jazz Spot J hat Ōno Yūji mit dem dritten Set begonnen. Das erste war ein wenig verhalten, nun hat sich besonders der Bassist eingefunden, am Ende des Sets klatscht das Publikum sogar mit. Eigentlich macht man das nicht, sagt meine Begleitung, aber es ist charmant hier. Viele der japanischen Gäste hören mit geschlossenen Augen zu, viele wippen mit dem Kopf, einige der sonst so zarten Damen klatschen begeistert und fest. Ōno Yūji scheint sich sehr zu amüsieren. Fly me to the Moon – am liebsten nur noch von Tōkyō aus.
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