Jedes Jahr im Dezember kürt der japanische “Große Preis für Neologismen und Schlagwörter” (shingo ryūkōgo taishō) Begriffe, die Japans Gesellschaft im jeweiligen Jahr besonders geprägt hat oder die viral gingen. 2023 standen einige Begriffen unter einem sportlichen Stern, und auch 2024 haben die Olympischen und Paralympischen Spiele in Paris einen Einfluss auf die mediale und gesellschaftliche Diskussion gehabt. Während sich über den ersten Platz eine TV-Serie freuen darf, haben es Begriffe im Zusammenhang mit politischen Skandalen und sozialen Trends ins diesjährige Ranking geschafft. Zudem ist es das erste Mal seit vier Jahren, dass sich die Top-Auswahl nicht auf Baseball bezieht.
Das sind die Schlagwörter des Jahres 2024
1. ふてほど (futehodo) / “Extremely Inappropriate”
Die heutige Zeit wird von Kritikern gerne als “woke” verschrien, so auch in Japan: Für die sogenannte Shōwa-Generation (1926-1989) sind Maßnahmen der Work-Life-Balance, Gleichberechtigung der Geschlechter und vieles mehr scheinbar ein Rückschritt: In der Comedy-Serie “不適切にもほどがある!” (futeki setsu ni mo hodo go aru!, wörtlich “Es ist nichts anderes als unangemessen!”) des japanischen Senders TBS geht es um den stolzen Sportlehrer Ichirō (gespielt von Abe Sadao), der verzweifelt versucht, ins Jahr 1986 zurückzukehren, nachdem er irgendwie im Jahr 2024 gelandet ist – wo seine eisernen Shōwa-Ansichten nun als völlig unangemessen gelten. Die Serie vergleicht auf beißende Art und Weise, wie anders die Gesellschaft noch vor 40 Jahren war. Während viele Menschen die Shōwa-Zeit romantisieren, frei nach dem Motto “Früher war alles besser”, wird kein Hehl darum gemacht, wie sexistisch und ausfällig diese Ära eigentlich war – doch auch die moderne Reiwa-Zeit (2019- ) bekommt ordentlich ihr Fett weg. “Futehodo”, wie die Serie in Japan abgekürzt wird, schafft die Balance zwischen Satire und rührender Familiengeschichte und wurde zu einem Riesenhit unter den Zuschauenden.
Außerhalb Japans ist die Serie bekannt als “Extremely Inappropriate!” und hierzulande auf Netflix zu sehen.
(ab hier in keiner bestimmten Reihenfolge)
2. 裏金問題 (uragane mondai) / Schwarzgeld-Problem
Die Spendenaffäre der LDP warf erneut ein Licht auf die grassierende Korruption und Bestechung innerhalb der Partei. Premierminister Ishiba versprach, in den eigenen Reihen ordentlich aufzuräumen, aber das Ergebnis enttäuschte viele Wählerinnen und Wähler. Weitreichende Konsequenzen blieben aus, wofür die Bevölkerung die LDP bei den vorgezogenen Neuwahlen im Oktober abstrafte. Das Wort macht deutlich, wie groß der Unmut der Bevölkerung wirklich ist.
3. 界隈 (kaiwai) / Nachbarschaft oder Umgebung
Dieser Begriff (der eigentlich im geografischen/stadtplanerischen Sinne gemeint ist) hat sich unter der jüngeren Bevölkerung als Beschreibung für einen Ort oder eine Gruppe durchgesetzt, wo Menschen mit gleichen Interessen zusammenkommen und gemeinsam Zeit verbringen. Shizen kaiwai (“Natur-Nachbarschaft”) etwa bezieht sich auf Menschen, die gerne Zeit in der Natur verbringen, während mizuiro kaiwai (“hellblaue Nachbarschaft”) Menschen anzieht, die hellblaue Kleidung bevorzugen.
4. 初老ジャパン (shorō japan) / Frühes Seniorenalter Japan
Während der Olympischen Spiele 2024 in Paris ging zum ersten Mal seit 92 Jahren eine Medaille des Pferdesports nach Japan: Das japanische Team gewann Bronze in der Mannschafts-Vielseitigkeit. Ihr Durchschnittsalter lag bei 41,5 Jahren, weshalb sich die Sportler selbst den liebevollen Spitznamen “Frühes Seniorenalter Japan” gaben. Die Spiele standen für sie zunächst unter keinem guten Stern, als sie aus gesundheitlichen gezwungen waren, Pferd und Reiter auszutauschen, was ihnen Strafpunkte einbrachte. Doch durch eine außergewöhnliche Leistung schaffte es das “Seniorenteam” trotzdem aufs Treppchen.
5. 新紙幣 (shinhihei) / Neu eingeführte Banknote
Seit Juli 2024 sind neue japanische Geldscheine im Umlauf, die erste Änderung seit 1984. Neben verbesserten Sicherheitsmerkmalen erhielten die Noten ein überarbeitetes, markantes Design sowie neue Persönlichkeiten, die auf der 1.000-, 5.000- und 10.000 Yen-Note verewigt wurden.
6. 50-50
Baseball ist der unangefochtene Nationalsport Japans – und vor allem Starspieler Ōtani Shōhei genießt einen geradezu legendären Status in der Bevölkerung. Ōtani, der derzeit für die Los Angeles Dodgers spielt, stellte 2024 einen neuen Rekord auf, als er seinen 50. Homerun schlug. Damit ist er der erste Spieler, der in einer einzigen Saison 50 Homeruns sowie 50 gestohlene Bases erzielte und den “50-50 Club” gründete.
7. Bling-Bang-Bang-Born
Diesem musikalischen Hit konnte man 2024 wirklich nicht entkommen: Jung und Alt tanzten die simple und urkomische Choreografie von “Bling-Bang-Bang-Born”. Das japanische Hip-Hop-Duo Creepy Nuts wurde mit ihren komplexen, aber eingängigen Rhythmen zu einer internationalen Sensation – und vor allem auf Social Media ahmten die Menschen die Tanzmoves aus dem dazugehörigen Anime-Opening “MASHLE: Magic and Muscles” nach. Das Duo steuerte im Übrigen auch den Titelsong für “Extremely Inappropriate!” bei.
8. ホワイト案件 (howaito anken) / “Weiße Angelegenheit”
Dieser Begriff ist ein Euphemismus, der gerne von unseriösen Recruitern in sozialen Medien verwendet wird, um sogenannte yami baito (wörtlich “dunkle Jobs”) – ethisch fragwürdige oder illegale Gelegenheitsjobs für einen ungewöhnlich hohen Lohn – zu beschönigen. Solche Jobs beinhalten oft Betrug, etwa von älteren Mitmenschen, aber auch extreme Straftaten wie Einbruch und Raub. Vor allem junge oder hoch verschuldete Menschen fallen auf die Tricks der Recruiter rein oder lassen sich im Austausch für das schnelle Geld zu solchen Taten überreden – ein wachsender Trend, den die Polizei seit einigen Jahren mit Sorge beobachten konnte.
9. 名言が残せなかった (meigen ga nokosenakatta) / “Ich konnte nichts Zitat-würdiges sagen”
Die Speerwerferin Kitaguchi Haruka gewann als erste Japanerin in dieser Disziplin während der diesjährigen Olympischen Spiele die Goldmedaille. Im Anschluss war sie jedoch frustriert darüber, dass ihr nichts “Zitat-würdiges” oder Inspirierendes eingefallen sei, um ihren Sieg und ihre persönliche Bestleistung zu feiern. Die Ironie, dass ausgerechnet dieses Zitat Kitaguchi zu einer Auszeichnung als “Schlagwort des Jahres” verhalf, ist auch ihr sicherlich nicht entgangen – doch nach einer solch historischen sportlichen Leistung braucht es vielleicht keine inspirierenden Worte mehr.
10. もうええでしょう (mō ee deshō) / “Is’ doch jetzt genug, oder?”
Das Netflix-Drama “Tokyo Swindlers” (auf Japanisch Jimenshi tachi), welches im Juli erschienen ist, handelt von Immobilienbetrügern in Tōkyō, die sich einen besonders großen, aber riskanten Coup vornehmen. Einer der Schwindler, Gotō (gespielt von Taki Pierre) gibt immer wieder den Satz mō ee deshō in einem dicken Kansai-Dialekt von sich – sei es um eine schwierig werdende Verhandlung zu unterbrechen oder im Sinne von “Meinetwegen”. Die Serie war ein internationaler Hit – und der Satz ging gleich mit viral.
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