Unter einem strahlend blauen Himmel auf einer großen, grünen Wiese irgendwo in Hokkaidō grasen einige Milchkühe friedlich. Oder zumindest taten sie das früher, in den 1940er- und 1950er-Jahren. Heute entspricht so eine Szene, wie sie z.B. in der 2019er Morgenserie „Natsuzora“ („Sommerhimmel“) des japanischen TV-Senders NHK gezeigt wird, kaum noch der Realität. Heute verbringen die meisten Milchkühe ihr gesamtes, kurzes Leben drinnen, übergewichtig, geschwächt und krankheitsanfällig.
Die Massentierhaltung ist kein ausschließlich japanisches, sondern ein globales Problem. Während jedoch in vielen Ländern und Regionen beispielsweise Veganismus und Tierrechtsbewegungen immer mehr an Fahrt gewinnen, sind in Japan Konzepte wie etwa hiragai, Freilandhaltung, noch recht unbekannt. Legebatterien, in denen Hühner im Durchschnitt weniger Platz haben als die Fläche eines DIN-A4-Blattes, sind zum Beispiel vielerorts bereits verboten, in Japan aber noch immer verbreitet. Damit die Tiere in derart engen Räumen nicht krank werden und sich gegenseitig anstecken, werden ihnen präventiv Antibiotika verabreicht. So können in 59 Prozent des japanischen Hähnchenfleisches antibiotikaresistente Bakterien nachgewiesen werden. Ein Kilogramm tierische Lebensmittel, das in Japan „produziert“ wurde, enthält doppelt so viele Pharmazeutika wie in den USA.
Spontan und „trendy“ zum Haustier
Nicht nur in der Massentierhaltung, sondern auch in Japans 1,4 Billionen Yen (etwa 10,4 Milliarden Euro) schwerer Haustierindustrie sind Rückstände im Tierwohl sichtbar. In vielen japanischen Tierhandlungen befinden sich die Welpen oder Kätzchen in kleinen Käfigen oder durchsichtigen Kästen. Besucher:innen können ihnen beim Essen, Spielen und Schlafen zuschauen, auf bunten Zetteln Informationen wie Geschlecht, Rasse und Preis nachlesen, und sich auch ganz spontan zum Kauf entscheiden; denn Kontrollen der Hintergründe oder Lebensweisen der Käufer werden oft gar nicht durchgeführt.
In manchen Tierhandlungen gibt es sogar saisonbedingte Ausverkäufe, zum Beispiel während der Weihnachtszeit, und einige Menschen kaufen so Haustiere, oft aus einem Impuls heraus, als „Weihnachtsgeschenke“. Nicht selten spielen auch Trends eine große Rolle. Zum Beispiel wollten viele Japaner:innen plötzlich einen Husky, nachdem 1983 der japanische Film „Taro und Jiro in der Antarktis“ erschien. „Doch ein oder zwei Jahre später erfuhren sie, wie groß [Huskies] werden können und [viele von ihnen] wurden zurückgegeben oder losgeworden“, sagte Animal-Refuge-Kansai-Gründerin Elizabeth Oliver dem „Tokyo Weekender“. Ähnlich waren in den 90ern nach Erscheinen des Disney-Films „101 Dalmatiner“ Dalmatiner plötzlich sehr beliebt.
Viele Wege ins Tierheim
Wenige machen sich Gedanken darüber, wo die niedlichen Hunde- und Katzenbabys aus den „Pet Shops“ eigentlich herkommen. Viele werden in Massenzuchtbetrieben geboren und ihren Müttern schnell weggenommen, in Boxen gepackt, und über Auktionszentren dann in die Tierhandlungen „geliefert“. Es ist eine lange und anstrengende Reise für die kleinen, erst wenige Wochen alten Tiere; durch den Stress sterben viele von ihnen.
Ebenfalls stellt sich kaum jemand die Frage, was mit den Hunden und Katzen passiert, die nicht verkauft werden können und irgendwann zu groß für die Displaykästen der Tierhandlungen werden. Sie landen wieder bei Massenzüchtern, werden ausgesetzt oder enden in Tierheimen, wo sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein trauriges Schicksal erwartet. Denn 88 Prozent der Katzen und 82 Prozent der Hunde in japanischen Tierheimen werden getötet – über 40 Prozent mehr als in den USA, in China oder im Vereinigten Königreich.
Nicht selten landen auch Tiere, die verkauft werden konnten, letztendlich in Tierheimen. Ein Grund dafür liegt etwa in der Kommunikation zwischen Käufer:innen und Verkäufer:innen: Weil erstere keinen Prüfungen unterzogen, aber gleichzeitig auch nicht ausreichend informiert werden, sehen sie sich oft mit unschönen Überraschungen konfrontiert – wie zum Beispiel, dass der süße Welpe nach ein paar Monaten plötzlich viel zu groß für die eigene kleine Wohnung ist. In anderen Fällen handelt es sich vielleicht um einen Impulskauf und der Person wird bewusst, dass sie doch nicht in der Lage ist, für ein Haustier zu sorgen. Laut „Tokyo Weekender“ behalten nur wenige Menschen in Japan ihren Hund länger als zwei Jahre – sie gehen „aus der Mode, ganz wie Kleidung“, so Oliver.
Streicheleinheiten zu einem hohen Preis
Auch japanische Tier-Cafés werfen viele Bedenken auf, was Tierwohl angeht, besonders wenn es sich nicht um domestizierte Tiere handelt, sondern um wilde. Mittlerweile stehen neben den klassischen Katzen-Cafés nämlich auch Einrichtungen mit Igeln, Minischweinen, Ottern, Schlangen und sogar Pinguinen an der Spitze diverser Freizeit- und Reiseführer und werden sowohl von Einheimischen als auch Tourist:innen rege besucht.
2012 öffnete das erste Eulen-Café in Japan seine Türen – angeblich, weil Eulen seit Erscheinen der Harry-Potter-Bücher und -Filme deutlich populärer geworden sind. Einige Jahre später sorgte dann ein Erfahrungsbericht eines ehemaligen Angestellten in der Tierrechts-Community für Aufruhr. Die Eulen seien durchgehend angebunden gewesen, hätten auch an heißen Sommertagen nur wenig Wasser bekommen und mussten sich pausenlos von den Café-Besucher:innen beobachten und anfassen lassen. In nur einem Jahr seien sieben von ihnen gestorben – oder „von einer Familie aufgenommen worden“, wie es das Café-Management offiziell genannt habe.
Die britische Organisation Wild Welfare veröffentlichte 2019 ebenfalls einen Erfahrungsbericht; darin erzählten Vertreter:innen, die mehrere Eulen-Cafés in Japan besucht hatten, wo auch andere Spezies wie zum Beispiel Capybaras, Flamingos und Fenneke vorgeführt wurden, dass die Tiere verängstigt und gestresst gewesen seien und unnatürliches Verhalten wie etwa Federrupfen aufgewiesen hätten. 2016 musste ein Tōkyōter Katzen-Café für immer schließen, das über 60 Katzen auf einer nur 30 m² großen Fläche unter schlechten Bedingungen gehalten hatte.
Zaghafte Verbesserungen
Doch nicht überall ist die Lage völlig aussichtslos. So gibt es bereits Bauernhöfe, die Eier und Fleisch aus Freilandhaltung verkaufen und Restaurants, die sich bemühen, nur solche Zutaten für ihre Gerichte zu nutzen. Es gibt zum Beispiel Katzen-Cafés, die nur Fundkatzen aufnehmen, die sonst im Heim oder auf der Straße gelandet wären, und ihnen sogar dabei helfen, eine Familie und ein neues Zuhause zu finden.
Japanweit kämpfen immer mehr NGOs und NPOs mit Petitionen und Protesten gegen Missbrauch und Missstände in Tier-Cafés oder der Massentierhaltung. Freiwillige helfen in Tierheimen aus, damit dort nicht mehr so viele Tiere sterben müssen. Sogar die japanische Regierung schaltet sich langsam ein: Im Juni 2020 trat der überarbeitete „Act on the Welfare and Management of Animals“ in Kraft, nach dem Tierquälerei strenger bestraft wird. Die Fortschritte in Japans Tierwohl- und Tierrechtsbewegungen sind noch relativ klein und zaghaft – aber sie sind dennoch da.
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