Nach den ersten Begegnungen mit Besuchern aus Japan oder auch nach ein paar Sprachkursen fällt es allmählich auf: Der Stolz vieler Japaner auf die shiki 四季 – die vier Jahreszeiten. “Bei uns gibt es vier Jahreszeiten!” – mit diesem Satz würde wohl kaum ein Mitteleuropäer im Ausland prahlen, denn die Existenz von Winter, Frühling, Sommer und Herbst gilt als selbstverständlich, jedoch wohlbewusst, dass es natürlich rund um den Äquator anders läuft. Doch schon im Kindergarten wird den lieben Kleinen eingeimpft, dass eben jene Jahreszeiten etwas typisch Japanisches seien.
Dabei sind die Jahreszeiten in Japan vielerorts schwächer ausgeprägt als beispielsweise in Deutschland – von einem Winter kann man im subtropischen Okinawa nicht reden, und selbst der typische Winter in Tōkyō, wo Bodenfrost eine Seltenheit ist, hat den Namen eigentlich nicht verdient. Man möchte das ganze lieber in Frühling, Regenzeit, Sommer, Herbst mit Laub und Herbst ohne Laub unterteilen. Andererseits geht entlang der Westküste und auf Hokkaidō der Winter kein Risiko ein – meterhohe Schneewände sind dort absolut normal und machen vor allem den Älteren schwer zu schaffen, denn ein, zwei Meter Schnee vom Dach zu räumen ist kein Kindesspiel. Es kommt oft genug vor, dass ganze Täler, manchmal auch ganze Autobahn- oder Schnellstraßenabschnitte für ein paar Tage von der Außenwelt abgeschnitten sind.
Doch woher kommt der Stolz auf die Jahreszeiten? Eine staatlich finanzierte Broschüre versucht, Licht ins Dunkel zu bringen. Auf Englisch und Japanisch wird dort versucht, darzulegen, dass Japaner die Jahreszeiten auf eine einzigartige, für Nichtjapaner unverständliche Art und Weise wahrnehmen. Das ist zwar entweder unglücklich formuliert oder einfach nur überbordender Nationalstolz, denn natürlich nehmen auch andere Kulturen ihre Jahreszeiten sehr genau wahr, aber der Rummel um Herbst, Frühling und Co. ist in Japan tatsächlich ausgeprägter: Das findet sich im Alltagsleben genauso wie in der Kunst, in Briefen oder Emails: Nicht selten beginnen jene mit einem der Jahreszeit angemessenen Gruß: “Bitte überanstrengen Sie Ihren Körper während der Tage der Resthitze [Anmerkung: Gemeint ist der September] nicht so sehr!” Jede Jahreszeit hat ihre festen Symbole und Rituale – und Speisen natürlich, denn das ist ja besonders wichtig. Manche Fische, aber auch Austern zum Beispiel, kann man (eigentlich) nur im Winter essen, andere nur im Sommer, und darauf freut man sich wochenlang im Voraus. Die Kirschblütenschau im Frühling (hanami 花見) wird zu einem einzigen Volksfest, und die kleine, herbstliche Schwester namens kōyō 紅葉 (“Rotes Blatt” – die Herbstlaubfärbung) zieht ebenfalls Millionen Menschen in die Berge und Wälder.
Dieses Zelebrieren der Jahreszeiten ist regelrecht ansteckend: Wer sich vorher informiert, was zu welcher Jahreszeit gefeiert und gegessen wird, kann seinen Japanaufenthalt um ein paar Facetten bereichern. Genauso gut sollte man aber auch bedenken, welche Auswirkungen diverse jahreszeitlich bedingte Phänomene haben können: Sicher sind viele Tempelanlagen in Kyōto bei voller Kirschblüte besonders schön. Ebenso sicher ist jedoch auch, dass viele Millionen in- und ausländische Besucher ganz genau so denken, so dass in jener Woche nirgendwo ein Durchkommen ist.
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