Das Wochenmagazin Der Spiegel hat das Phänomen in einem Superlativ zusammengefasst: „Alt, älter, Japan“, so der Titel eines Beitrags im Oktober 2016. Tatsächlich ist Japan die älteste Gesellschaft der Welt. Nirgendwo sonst gibt es relativ zur Gesamtbevölkerung einen so hohen Anteil von alten Menschen.
Dabei war Japan noch in den 1970er Jahren unter den Industrienationen die Gesellschaft mit der jüngsten Bevölkerung. In Folge einer extrem niedrigen Geburtenrate einerseits und einem Anstieg der Lebenserwartung andererseits altert die Gesellschaft rapide.
Heute bekommt eine japanische Frau – ähnlich wie in Deutschland – statistisch gesehen nur noch 1,4 Kinder. Zudem liegt die Lebenserwartung der Frauen in Japan derzeit bei 86 Jahren und der Männern bei 80 und wird in Zukunft weiter steigen. Japan ist jetzt schon das Land mit den meisten 100-Jährigen. Dabei ähnelt die die Prognose der deutschen: 2020 wird es genauso viele Menschen unter 20 Jahre geben wie Personen, die älter als 74 Jahre sind.
Verfestigt sich der Trend, so stirbt Japans Bevölkerung rechnerisch im Jahr 3776 komplett aus.
Demografie als Herausforderung
Der demografische Schwund stellt den Staat schon heute vor neue Herausforderungen. Fängt die Zuwanderung von ausländischen Arbeitnehmern in Deutschland das Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung zum Teil auf, so werden Japans Sozialkassen mangels junger Arbeitskräfte enorm belastet.
Mit der Hochaltrigkeit nimmt zudem auch die Empfindlichkeit für altersbedingte Krankheiten, also vor allem für Demenz, zu. Prof. Dr. Shingo Shimada, Soziologe am Lehrstuhl für modernes Japan der Universität Düsseldorf, hat in einem gemeinsamen empirischen Forschungsprojekt des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) und der JSPS (Japan Society for the Promotion of Science) mit Kollegen beide Gesellschaften und ihre Fürsorgekonzepte für demente Menschen verglichen.
Neue Begrifflichkeit
„Beide Länder stehen vor den gleichen Herausforderungen“, so Shimada. Dabei ist die japanische Terminologie interessant. In der Alltagssprache gibt es zwei Verben für das deutsche Wort pflegen: 1. miru (看る) ist eher weit gefasst, bedeutet „nach jemandem sehen“ und wird auch für die Sterbebegleitung verwendet und 2. sewa wo suru (世話をする), was das Betreuen von Kindern, Kranken und Alten umfasst.
Als das Problem der Alterung in den 1990er Jahren durchschlug, wurde mit dem Wort kaigo (介護, Pflege) ein neuer Terminus eingeführt, der weniger breit ausgelegt wird als die Krankenpflege kango (看護) und sich vor allem auf die Altenpflege bezieht, die außerhalb der Familie geleistet wird. In diesem Zusammenhang wurde der Beruf des kaigoshi (介護士), des Altenpflegers, eingeführt. Breiter gefasst ist der Anglizismus kea (ケア), der für Sorge oder Fürsorge steht.
Pflegeversicherung nach deutschem Vorbild
Seit 2000 gibt es in Japan eine Pflegeversicherung (kaigohoken 介護保険), für die das deutsche Modell als Vorbild diente.
„Ein eklatanter Unterschied zwischen beiden Ländern ist, dass in Japan das Konzept des Wohlfahrtsstaates unterentwickelt ist“, erklärt Shimada. Offiziell ist Japan zwar seit 1946 ein Wohlfahrtsstaat (fukushishakai 福祉社会), doch lag trotz des rasanten wirtschaftlichen Wachstums der Nachkriegsjahre die Verantwortung für die Pflege der Älteren traditionell weiter bei den Familien und wurde dort insbesondere auf die Hausfrauen abgewälzt.
Gibt es in Deutschland gewachsene Wohlfahrtsorganisationen der Kirchen, wie die Johanniter oder Malteser, die einen Großteil der Pflegeleistungen erbringen, versäumte es Japan, solche Einrichtungen aufzubauen.
Das japanische System hat Löcher
Spätestens seit den 1980er Jahren ist die Zahl der Älteren in Japan jedoch enorm gestiegen. Mit der arbeitsbedingten Abwanderung der Jungen in die Städte und den beengten städtischen Wohnverhältnissen leben seither viele Ältere nicht mehr mit ihren Kindern in einem Haushalt.
Es mangelt zudem an Pflegeheimen, die speziell auf demente Menschen eingerichtet sind. „Das führt dazu, dass viele demente Alte in die Psychiatrie eingewiesen werden“, erläutert Shimada.
„Ein wichtiges Thema bei der Betreuung alter Menschen in Japan ist, dass diese oftmals weder ihren Angehörigen noch Fremden zur Last fallen wollen“, so der Soziologe weiter. Das japanische Sozialrecht sieht vor, dass Verwandte des zweiten und sogar dritten Grades für ältere Pflegebedürftige unterhaltspflichtig sind. „Um ihrer Familie diese finanzielle Bürde nicht aufzuhalsen, vermeiden es viele alte Menschen in Japan, sich in teuren Heimen pflegen zu lassen“, erklärt der Soziologe.
Roboter als Ersatzpfleger
In den wenigen existierenden Pflegeeinrichtungen gibt es zudem zu wenig Personal. Wo in Deutschland polnische Pflegerinnen angeheuert werden, greifen Alten- und Pflegeheime in Japan auf asiatische Pflegekräfte, vornehmlich von den Philippinen oder aus Indonesien, neuerdings auch aus Vietnam zurück.
Ausländische Pflegerinnen haben dabei drei Jahre Zeit, die Pflegeprüfung auf Japanisch zu bestehen. Fallen sie durch, müssen sie wieder in ihr Heimatland zurückkehren. Eine Konsequenz des Pflegenotstandes ist der Einsatz von Pflegerobotern – eine Entwicklung, die in Deutschland eher mit Befremdung gesehen wird. Allerdings dürften sich auch hier auf lange Sicht mechanische Hilfen in der Pflege durchsetzen.
[Video] Roboter als Pfleger
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