Mir erklärte einmal eine japanische Freundin: „Also ja, eigentlich habe ich einen Freund, aber für mich ist er eher ein Mensch-wie-mein-Freund (kareshi mitai na hito), schlafen tue ich mit jemanden anderen!“ Verwundert fragte ich, warum sie sich denn nicht von ihrem Wie-ihr-Freund-Freund trennen würde. „Naja, irgendwie ist er dann doch immer noch mein Freund und ich mag ihn!“, war die schulterzuckende Antwort. Ein anderer Bekannter wiederum verteidigte seine Seitensprünge damit, dass er seiner Freundin eine Trennung nicht antun könne, weil sie das psychisch nicht aushielte und es sei ja auch nur Sex.
Und dann ist da immer noch dieses berühmt-berüchtigte Video über Prostitution, das online die Runden gemacht hat. Für alle, denen das virale Interview entgangen ist: In einer Straßenumfrage von 2023 wurden Japaner:innen gefragt, ob sie einen Besuch ihres Partners im Bordell als Betrügen ansehen würden – und der Großteil der Befragten verneinte dies. Natürlich ist so eine Straßenumfrage immer nur ein kleiner Bruchteil dessen, was wirklich in der Gesellschaft vor sich geht und Aussagen wie „Nein, für mich ist Prostitution kein Seitensprung!“ klicken sich einfach besser als „Natürlich heißt das, dass mein Partner mich betrügt.“ Doch es scheint ein Thema zu sein, das in und um Japan immer wieder diskutiert wird. Was hat es also auf sich mit diesem Land, in dem laut Social Media Untreue und Beziehungen Hand in Hand gehen?
Währet den Anfängen?
Wirft man einen Blick in die japanische Geschichte, ist man vielleicht überrascht, wie lange es gedauert hat, bis die Ehe aus Liebe zum Standard und der/die Ehepartner:in und die Person mit der man schläft, dieselbe geworden sind: Im Mittelalter wurde meist aus politischen Gründen geheiratet, um den Stand der Familie zu verbessern und stärkere Allianzen zu schmieden. Liebe war in den wenigsten Fällen der ausschlaggebende Faktor für eine Eheschließung, weshalb es nicht unbedingt als verächtlich angesehen wurde, wenn der Sex mit jemandem außerhalb der Ehe stattfand. Der Kaiserhof war hier das Paradebeispiel: Der Kaiser hatte meist eine Reihe an Gattinnen, um die Wahrscheinlichkeit auf einen männlichen Nachkommen zu verbessern, sowie Konkubinen – ein System, das weitgehend akzeptiert wurde.
Auch mit dem Umbruch zum 19. Jahrhundert und den Umstrukturierungen des Landes waren romantische Gefühle und Liebe kein grundlegender Bestandteil einer Ehe. Eher im Gegenteil: Liebe in einer Ehe war ein Zeichen von Schwäche und Ignoranz. Die Pflichten der Japaner:innen galten zunächst gegenüber dem Staat, dann dem Haushalt und dann den eigenen Interessen. Liebe war also geradezu ein Betrug an den staatlichen Verantwortungen – dass man fremdging, war wahrscheinlich noch angesehener, als den eigenen Partner oder die eigene Partnerin zu lieben.
Bei den Affären wurden Männer und Frauen übrigens nicht mit dem gleichen Maß gemessen. Bis zum Jahre 1908 war es Ehemännern noch legal erlaubt ihre Frauen umzubringen, wenn sie diese beim Fremdgehen erwischten. Ähnliche Regelungen für Männer gab es zu dem Zeitpunkt nicht – für sie wurde es lange Zeit als recht normal angesehen, wenn sie, als „Ausgleich“ zu ihrem tagesumfassenden Job, fremdgingen.
Eine neue Generation
Und wie sieht es heute in der japanischen Datingwelt aus? Während insbesondere unter jüngeren Menschen durch den Einfluss von Social Media auch neuere Beziehungskonzepte wie offene oder polygame Beziehungen langsam diskutiert werden, sind gleichzeitig die Fremdgeh- und Scheidungsraten (rund 35 % für die Scheidungen, was die Statistiken zum Fremdgehen betrifft variieren die Zahlen sehr stark) recht hoch. Übrigens nicht nur in Japan, sondern auch hier in Deutschland. Junge Menschen ab Mitte 20 begeben sich auf Verkupplungspartys und gehen immer wieder von den Eltern arrangierte Ehen ein. Konkatsu (ein Kofferwort aus den Begriffen kekkon für Ehe und katsudō für Aktivität) oder die Suche nach einem Ehepartner ist ein energie- und zeitraubender Nebenjob. Und es scheint, dass es für viele wichtiger sei, überhaupt verheiratet zu sein, als den oder die Richtige:n zu finden. Was vielleicht auch nicht das Ziel ist – denn viele, insbesondere jüngere, Japaner:innen geben zu, ihren Partner oder ihre Partnerin bereits betrogen zu haben oder darüber nachzudenken.
Fremdgehen oder nicht?
Um noch einmal auf das besagte Video vom Anfang (was im Übrigen eine Reihe von Nachahmern und Reaktions-Videos nach sich gezogen hat) zurückzukommen: Ist für die Japaner:innen ein Bordell-Besuch nun ein Seitensprung oder nicht? Umfragen auf japanischen Webseiten unterstützen die These, dass Sex ohne Gefühle kein Betrug sei. Und auf anderen, eher englischsprachigen Seiten, ranken sich einige Theorien, woher diese Begründung kommen könnte: Sei es sexuelle Frustration der Männer wegen prüder japanischer Frauen (die sexistische Theorie), die scheinbare gesellschaftliche Trennung zwischen Liebe und Sex (die historische Theorie) oder es sei akzeptierter, weil Japan so viel anders sei als der Westen (die exotisierende Theorie). Vielleicht ist es aber auch immer noch ein Tabu, dass nur plötzlich angesprochen wird, weil insbesondere die jüngere Generation, in der neue Beziehungskonzepte wichtiger werden, mehr vor die Kamera tritt und solche Thematiken offener anspricht.
Dennoch: Anscheinend hat ein nicht so kleiner (und medial präsenter) Teil der insbesondere jüngeren Japaner:innen ein eher entspannteres Bild, was Treue in einer Beziehung angeht. Und vielleicht ist der westliche, immer noch recht monogame, Blick auf die Beziehungen in Japan auch ein bisschen verzerrt – denn im Endeffekt ist es egal, wie wir Beobachtenden Treue oder Untreue in dem Land betrachten, solange beide Seiten einvernehmlich damit in Ordnung sind und niemand verletzt wird.
Und nie vergessen: Die viralen Videos geben nur einen winzigen Einblick in die Lebenswelten der japanischen Städter:innen – während in vielen anderen Videos Betrug und Bordell-Besuche in Beziehungen ein absolutes No-Go waren.
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