Nur wenige Fernsehformate schaffen den Sprung raus aus Japan, erst recht, wenn die Formate nicht völlig abgedreht sind. „Terrace House“ hat jedoch den Sprung in die weite Welt geschafft und ist nicht nur in Japan sehr beliebt. Das Format ist eine Art „Big Brother light“ – wildfremde junge Menschen leben da plötzlich in einem schmucken Haus zusammen, gehen aber soweit ihren Alltagsgeschäften nach. Manche Kritiker beschreiben Terrace House als „Reality Show für alle, die Reality Shows hassen“. In der auch auf Netflix erschienenen Serie zog Ende 2019 eine 22-jährige Wrestlerin ein.
Kimura Hana, halb Japanerin und halb Indonesierin, stach als schillernde, starke Frau heraus, die auch mal anecken konnte. So geriet sie mit einem der männlichen Bewohner aneinander, was einen regelrechten Shitstorm lostrat. In sozialen Netzwerken schoss man sich auf Kimura ein, beschimpfte sie auf‘s Ärgste und ließ keine verbale Erniedrigung aus. Kimura, die aufgrund ihres ausländischen Vaters eigenen Angaben zufolge Schikane aus der Schule kannte, zerbrach schließlich daran und nahm sich am 23. Mai 2020 das Leben. Eine erst 22-jährige, starke Profiwrestlerin, in die Knie gezwungen von anonymen verbalen Auswüchsen. Kaum wurden Selbstmord nebst Abschiedsbrief publik, verschwanden all die Hasskommentare plötzlich wie von Geisterhand.
Anonymität im Netz begünstigt Internet-Hass
Seit 2001 gibt es in Japan zwar ein „Funkbetreibergesetz“, das Provider in die Pflicht nehmen kann. Doch in den fast 20 Jahren seit Erlass des Gesetzes hat sich viel getan – soziale Netzwerke und verschlüsselte Chat-Apps waren zur Jahrtausendwende noch nicht verbreitet. Das Gesetz hatte dennoch schon damals einen zeitgemäßen Hintergrund: 1999 startete nämlich 2ch (2 channel), ein sehr schlicht gehaltenes Bulletin Board System, und es wurde schnell zu einer der meistfrequentierten Webseiten in Japan mit dutzenden Millionen Benutzern. Damals wurde schnell klar, dass die User hier dank der möglichen Anonymität schnell ihre gute Kinderstube und die sonst in Japan so gelobte Etikette vergaßen und verbal die Sau rausließen. Nicht nur gegen andere User, sondern auch gegen jede nur erdenkliche Minderheit. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, ob man nun auf 2ch schaut oder auf die Kommentare bei Yahoo! Japan. Vor allem die ネット右翼 (netto uyoku), die „Rechten im Netz“ sind sehr aktiv, aber auch viele Demagogen und Trolle.
Stopp des Cyber-Mobbings auf Kosten der Meinungsfreiheit?
Eine Arbeitsgruppe des Innenministeriums hat nun nach dem Freitod von Kimura begonnen, sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen – mit dem Ziel, sich auf eine neue Gesetzesvorlage zu einigen. Es gibt verschiedene Ansatzpunkte: Zum Beispiel, Provider dazu zu verpflichten, Telefonnummern von jedem User zu sammeln. Das Ziel ist es, jeden Kommentar, egal wo er gepostet wurde, zurückverfolgen zu können. Die eigentliche Vorbeugung von Mobbing, Hassreden, Rufmord und bewusster Irreführung im Netz darf man jedoch nicht aus den Augen lassen, da hier nicht weniger als die Meinungsfreiheit auf dem Spiel steht.
Mit der Meinungsfreiheit eng verbunden ist die Pressefreiheit, und mit der geht es auch ohne neues Gesetz seit Jahren bergab – beim internationalen Pressefreiheit-Ranking (erhoben von Reporter ohne Grenzen) liegt Japan bereits jetzt auf einem traurigen 66. Platz, hinter Papua-Neuguinea, Georgien oder Madagaskar. Ein staatlicher Missbrauch strengerer Regeln im Internet ist eine real existierende Gefahr.
Schwierige Aufgabe
Damit steht Japan ein schwieriger Spagat bevor. Einerseits muss auch Japan sehen, dass es die Auswüchse im Netz unter Kontrolle bringt, denn in einem Land mit so vielen Naturkatastrophen können Hetze und Fehlinformationen im Ernstfall schwere Schäden anrichten. Andererseits muss dafür gesorgt werden, das Recht auf Meinungsfreiheit zu wahren und die Bürger vor Missbrauch durch staatliche Behörden zu schützen. Immerhin ist darüber nun die Diskussion im Gange, so dass der tragische Tod von Kimura Hana nicht ganz umsonst war.
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