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Burakku Kōsoku: Wenn Schulregeln die Grenzen überschreiten

Zehra Sagra
Zehra Sagra

Rigide Kleidervorschriften, vorgeschriebene Haarfarben und strenge Verhaltensregeln – Japans sogenannte „schwarze Schulregeln“ sorgen für immer mehr Unmut. Was ursprünglich die Disziplin fördern sollte, wird zunehmend als Einschränkung der persönlichen Freiheit wahrgenommen. Doch woher stammen diese Verordnungen und wie weit dürfen sie gehen?

© iStock.com / coward_lion

Schüler:innen mit natürlichem braunen Haar haben dieses Schwarz zu färben; Wasser trinken auf dem Weg zur Schule oder nach Hause ist verboten; Mädchen dürfen nur weiße Unterwäsche tragen. Diese Vorschriften sind nur einige der „schwarzen Schulregeln“ (burakku kōsoku) an Japans Mittel- und Oberschulen. Sie scheinen weder eine rationale Basis zu besitzen, noch sind sie der Öffentlichkeit allgemein bekannt, und erschweren dennoch den Alltag vieler junger Japaner:innen. Jede Schule hat eigene Regeln, die vermeintlich der jeweiligen Situation der Schule angepasst sind. Ob dies zutreffend ist oder ob die Subjektivität des Schuldirektors einen Anteil hat, ist unklar. Laut einer Untersuchung der Japan Bar Association (JBA), wurden selbst Schulregeln gefunden, die unzweifelhaft gegen die Menschenrechte verstoßen.

Schulregeln oder Kontrollinstrument?

In 2017 ereignete sich in Ōsaka ein Fall, der für großes Aufsehen sorgte: Eine Oberschülerin der Kaifukan High School, die von Natur aus braune Haare hat, wurde von der Schulleitung mehrmals aufgefordert diese schwarz zu färben, denn die Schulregeln verordnen schlicht schwarzes Haar für alle. Obwohl das Mädchen erklärte, dass ihre Haarfarbe naturgegeben sei, wurde sie zum Färben gezwungen. Durch den natürlichen Haarwuchs am Ansatz wurde jedoch ihre eigentliche Haarfarbe immer wieder sichtbar, sodass sie jede Woche nachfärben musste. Dies wurde auf Dauer kostspielig und beschädigte ihre Haare und Kopfhaut. Zudem wurde die Schülerin wegen ihrer Haarfarbe des Öfteren vom Schulunterricht sowie von Klassenfahrten ausgeschlossen und erlebte Schikanen seitens der Lehrkräfte. Die Familie verklagte die Schule erfolgreich, allerdings nicht aufgrund von Menschenrechtsverletzung, sondern aufgrund der Missachtung des psychischen Zustandes des Mädchens durch die Lehrkräfte. Der Fall erregte großes mediales Interesse und führte zu einer breiten Debatte über die Angemessenheit derart strenger Schulregeln. Das Ereignis in Ōsaka erregte so viel Aufsehen, dass 2019 darüber sogar eine Filmadaption mit dem Titel „Black School Rules“ erschien. 

Verzweifelte Schülerin im Klassenraum. © Photo AC / ACworks

Online-Protest

Folglich entstand eine Online-Bewegung, bei der japanische Schüler:innen aus dem ganzen Land ihre als unsinnig empfundene Schulregeln auf der Internetplattform Twitter (heute X) veröffentlichten:

– Dauerwellen sind verboten; ständige Haarinspektionen; Vorlage eines Nachweises zur Prüfung der Echtheit der Haarfarbe und Struktur

– Haare der Mädchen dürfen offen schulterlang sein, ansonsten zusammenbinden

– Bei einer anderen Haarfarbe als schwarz wird man am Schultor wieder nach Hause geschickt

– Der Rock muss die Knie bedecken

– Unterwäsche muss weiß sein

– Verbot von Sonnencreme

– Verbot von Strumpfhosen für Mädchen, selbst im Winter

– Wer keinen Helm trägt, dessen Fahrrad wird beschlagnahmt. Falls der Helm bei einem Unfall kaputt geht, bekommt man bis zum Abschluss keinen neuen

– Lehrer:innen dürfen Notiz- und Tagebücher der Schüler:innen lesen

– Romantische Beziehungen sind verboten

– Jungen müssen einen sogenannten „Maschinenschnitt” tragen

Auf der Webseite der Japanese Communist Party sind die Ergebnisse einer Meinungsumfrage zu Schulordnungen vorzufinden, die vom 15. April bis zum 30. Juni 2021 durchgeführt wurde. 3000 Schüler:innen der Mittel- und Oberstufe wurden befragt. Viele schrieben über ihr Unwohlsein bei den Schulordnungsinspektionen inklusive der Farbkontrolle der Unterwäsche, die auch von männlichen Lehrkräften durchgeführt wurden. Sie nannten es eine „öffentliche Hinrichtung” und fühlten sich sexuell belästigt. Ein Großteil der Befragten drückte Hass bei der Kontrolle ihrer Körper sowie der Inspektion und Beschlagnahmung ihrer persönlichen Dinge aus. Bei zu langen Haaren oder einem zu langen Pony, zu langen Nägeln oder falscher Kleidung wurde die demütigende Inspektion bis in das Klassenzimmer ausgetragen. Sie erzählen von Lehrer:innen, die sie vor der gesamten Klasse zurechtwiesen und ihnen Schuldgefühle einredeten. Ebenso wurden Haare vor Ort abgeschnitten, gefärbt oder sie mussten dies bis zum nächsten Tag selbst erledigen. Die Schüler:innen gaben an, dass sie nicht verstehen würden, weshalb es die Inspektionen gäbe und dass sie sich wie Soldaten statt Schulkinder fühlten. In den Antworten wurde auch die Verzweiflung der LGBTQ+ Jugendlichen deutlich, die von Geschlechtertrennung der Kontrollen sprachen sowie über das generelle Problem der geschlechterdifferenzierten Schuluniform. Diese Umfrage ist eine offenen Tür in die Köpfe der Betroffenen und zeigt eindrücklich Gefühle der Unsicherheit, Belästigung, Unverständnis und der Unterdrückung.

Disziplin oder Menschenrechtsverletzung?

Solche Schulregeln sind auf die späten 1970er/frühen 1980er Jahre zurückzuführen, als die Gewalt gegenüber Lehrer:innen durch Schüler:innen ein großes Thema gewesen war und man die Verschärfung der Schulregeln als notwendig sah, um die Schule zu einem sichereren Ort werden zu lassen. Doch wie sieht es heute aus? Tamura Yuichi von der State University of New York in Geneseo, führte im Jahr 1999 eine Vielzahl an Interviews durch, bei denen die gespaltenen Ansichten bezüglich der Vorschriften unter der Belegschaft deutlich wurden: Eine große Anzahl ist sich unsicher über die Effektivität der strengen Regeln und ist der Meinung, dass das Kontrollieren der Einhaltung zu zeitaufwendig und Energie raubend sei für die Konzentration auf das Wesentliche im Schulalltag. Zudem wird durch die Auferlegung der Homogenität das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Ausdruck von Individualität eingeschränkt. Ebenso verletzen die intimen Kontrollen die persönliche Freiheit und Privatsphäre der Kinder. Dadurch zerbricht das Vertrauen zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen. Außerdem ist das Ausmaß der Striktheit der Schulregeln von Schule zu Schule unterschiedlich ausgeprägt. Somit haben nicht alle Schüler:innen Japans dieselben Rechte und Freiheiten.

Von kaputten Klassenzimmern und Schulen mit BildungsnotstandSchüler außer Kontrolle und Schulen, in denen keine Bildung mehr stattfindet - man hört viel Schreckliches aus Japans Schulen. Dieser Artike...09.12.2016

Argumente für die strengen Regeln sind die Aufrechterhaltung der Schulordnung und somit des Status Quo und die Abhaltung der Schüler:innen von verwerflichem Verhalten. Ebenso können plötzliche visuelle Veränderungen als Alarmsignal für psychische Belastung dienen, die gut erkennbar sind, wenn es einen Standard gibt dem man sich anpassen muss. Eine weitere Meinung ist, dass die Anpassung an Grundregeln ab einem frühen Alter erforderlich sei, um später im Arbeitsleben keine Probleme zu haben.

Erste Veränderungen

Die Anhäufung von Kritik und dem stärkeren Bewusstsein der Japaner:innen bezüglich der Individualität des Menschen führten zu Lockerungen und Verringerung der Anzahl an Schulregeln bis hin zur Deregulierung der Kleiderordnung. Der Trend brachte jedoch auch Unklarheiten mit sich: Die Higashi Uji-Oberschule in Kyōto hat zum Beispiel die Regel zur Kurzhaarfrisur umformuliert zu „eine für Schüler:innen geeignete Frisur”. Die Kasuga- Mittelschule in Nara schaffte Schuluniformen komplett ab und erlaubte den Schüler:innen die freie Kleiderwahl, „solange sie für einen Mittelschüler:in nicht zu auffällig ist”. Diese neuen Regeln bieten viel Spielraum für Interpretation, der je nach Einzelfall neue Probleme mit sich bringen könnte. Jedoch sind sie ein erster wichtiger Schritt in Richtung persönlicher Freiheit für Heranwachsende.

 


Quellen:

Umfrage der Japanese Communist Party (Japanisch): https://www.jcp.or.jp/web_info/questionnaire-results.html

Projekt „Lasst uns die schwarzen Schulregeln loswerden!“ (Japanisch): http://black-kousoku.org/%E3%83%96%E3%83%A9%E3%83%83%E3%82%AF%E6%A0%A1%E5%89%87%E3%81%A8%E3%81%AF/

Statistik zu den Regeln an der Mittel- und Oberschule: https://www.nippon.com/en/currents/d00414/new-organization-takes-on-unreasonable-rules-in-japan%E2%80%99s-schools.html

Tamura, Yuichi (2004): Illusion of Homogeneity in Claims: Discourse on School Rules in Japan. In: High School Journal, State University of New York at Geneseo, Bd. 88, Nr. 1, S. 52-63.

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