Kein Studium – also was dann? Alternativen für Japans Oberschulabsolventen

Matthias Reich
Matthias Reich

Die Schulpflicht endet In Japan nach neun Jahren. Mehr als 98 % der Mittelschüler:innen gehen danach an eine Oberschule und erlangen damit praktisch die Hochschulreife. Knapp 60 % der Oberschüler:innen studieren im Anschluss an einer Universität – doch was machen die restlichen 40 %?

© photoAC / _EMUOK

In einer Gesellschaft, in der der Bildungsweg im Lebenslauf eine wichtige Rolle spielt, ist der Konkurrenzkampf um einen Platz an einer guten Universität groß – genauso groß wie die Hoffnung vieler Eltern, ihren Kindern damit eine gesicherte Zukunft zu ermöglichen. Das kostet sehr viel Geld und Geduld, und ist für die Eltern wie auch für die Kinder sehr entbehrungsreich. Doch es gibt auch Alternativen zur Uni, und die müssen nicht unbedingt schlecht sein. Wie verteilen sich die fast eine Million Oberschulabgänger:innen pro Jahr genau in der Gesellschaft – abgesehen von den gut 56 % im Studium?

Berufsschule

Jede:r sechste Japaner:in entscheidet sich nach der Oberschule für eine Berufsschule – eine Schule also, die auf einen bestimmten Beruf vorbereitet, der keinen Universitätsabschluss erfordert. Davon gibt es in Japan mehr als 2.700, Tendenz fallend, denn die stetig sinkende Geburtenrate und der Konkurrenzdruck durch die Universitäten hat in den vergangenen Jahren mehrere hundert Berufsschulen zur Schließung gezwungen. Diese befinden sich in der Regel in privater Trägerschaft. Die Berufsschuldauer liegt zwischen anderthalb und vier Jahren, wobei eine zweijährige Ausbildungszeit am häufigsten ist. Besonders gängig sind Schulen für Frisur & Kosmetik, Krankenpflege, Kochen, Mode oder Inneneinrichtung. Darunter gibt es auch sehr spezialisierte Schulen wie die für “Sushi & andere japanische Speisen” oder auch eine “Berufsschule für Fahrraddesign”. Das Ziel ist das Erlangen eines Zertifikats bzw. einer Qualifikation – und der Start ins Berufsleben.

Viele dieser Schulen werden daran gemessen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, danach auch einen Job zu finden – bei guten Einrichtungen liegt die Rate bei fast 100 %. Sie sind jedoch nicht billig: Im Schnitt werden gut eine Million Yen (7.000 Euro) für das erste Jahr fällig – bis zum Abschluss kommen weitere 2,2 Millionen Yen hinzu. Die Ausbildung kostet also gern 20.000 Euro und mehr – das ist etwas mehr als der Besuch einer staatlichen Universität im Durchschnitt kostet, aber wesentlich weniger als eine private Universität (ab 5 Millionen Yen). 

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Von der Oberschule direkt zur Arbeit

Knapp 15 % der Schulabgänger:innen beginnt, mit 18 Jahren, direkt mit der Arbeit – und die Chancen stehen hier nicht schlecht, denn rund 98 % finden auch gleich eine Stelle.¹ Besonders häufig finden die Oberschüler:innen eine Anstellung in der Gastronomie, im Baugewerbe, im Einzelhandel, im Transportwesen und im Gesundheitswesen. All diese Bereiche haben eins gemein: Es fehlt eklatant an Arbeitskräften, weshalb immer mehr Unternehmen gezielt nach Oberschulabsolventen Ausschau halten, die sofort arbeiten wollen – oder müssen, denn die hohen Berufsschul- und Universitätskosten können sich viele nicht so einfach leisten. 

Knapp 10 % unter “Sonstiges”

Überraschend groß ist die Zahl der “Sonstigen”, also derer, die nach der Oberschule weder an eine weiterführende Schule gehen noch arbeiten. Diese in Zahlen fast 90.000 jungen Japaner:innen setzen sich aus verschiedenen Gruppen zusammen: Viele von ihnen sind sogenannte rōnin, also Jugendliche, die es nicht an die Wunschuniversität geschafft haben, es aber nach einem Jahr noch einmal versuchen wollen. Für die meisten dieser “herrenlosen Samurai” – so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes rōnin – bedeutet dies, ein weiteres Jahr an einer der vielen juku genannten Abendschulen zu büffeln, in der Hoffnung, es beim nächsten Anlauf zu schaffen.

Zu den Sonstigen gehören aber auch zehntausende freeter – ein Englisch klingendes Wort, das nur im Japanischen existiert, und Personen bezeichnet, die sich mit Gelegenheitsjobs beziehungsweise als Freiberufler:innen über Wasser halten. Ebenfalls in der Statistik enthalten sind hier sogenannte NEETs – ein Akronym für “Not in Education, Employment or Training” und damit ein Synonym für hikikomori – Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen aus dem System ausklinken und sich einfach zu Hause verschanzen.

Bei einigen Werdegängen ist nicht immer ersichtlich, welche Gruppe in welche Rubrik fällt: So entscheiden sich zum Beispiel pro Jahr circa 7.000 Oberschulabgänger:innen für eine Laufbahn bei den Selbstverteidigungsstreitkräften, vor allem im ländlichen Bereich. Ebenfalls nicht ganz einfach einzuordnen sind diejenigen, die nach dem Schulabschluss in der elterlichen Firma arbeiten – eine Mischung also aus “direkt zur Arbeit” und “Sonstiges”.

Tendenz abnehmend: Tandai

Zu guter Letzt sind da auch noch gut 3 % von Schulabgänger:innen, die an eine tandai gehen – eine Abkürzung für tanki daigaku, oder “Kurzuniversität”, deren Besuch in der Regel nur zwei Jahre (statt die üblichen vier) dauert. In den 1990ern gab es noch rund 600 solcher Kurzuniversitäten in ganz Japan – bis Mitte der 2020er verschwand jedoch mehr als die Hälfte dieser Institutionen, denn die tandai hatten und haben nicht den besten Ruf. Nahezu alle Arbeitgeber bevorzugen Universitätsabsolventen, und so ist schon seit Jahrzehnten eine Abwanderung von den tandai hin zu “richtigen” Universitäten zu beobachten.

Vom Niedergang der tandai einmal abgesehen ist der Werdegang der Oberschüler:innen erstaunlich stabil – doch eines steht fest: In Japan spielt der finanzielle Freiraum der Eltern eine äußerst wichtige Rolle, denn sowohl ein Universitätsstudium als auch eine Berufsschule kosten umgerechnet mehrere zehntausend Euro.


¹ Siehe hier: https://hataractive.jp/kousotsu/place/

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