Laut der Statistik der Standesämter des japanischen Justizministeriums wurden 2016 mehr als 78.000 Adoptionsfälle gemeldet. Man staunt nicht schlecht, dass es sich bei 98 % davon um die Adoption von Erwachsenen handelt. Dies begründet sich in der japanischen, vom Konfuzianismus geprägten Kultur, die sehr viel Wert auf die Fortführung der Familientradition und des Familienbetriebs sowie die Pflege des Familiengrabs legt. Jede Familie hat dabei für einen zuverlässigen Stammhalter zu sorgen. Familien mit Söhnen haben diese Pflicht so gut wie erfüllt. Wenn man jedoch nur Töchter und somit keinen Stammhalter hat, sorgt in Japan eben dieses wunderbar pragmatische System der Erwachsenenadoption für die Aufrechterhaltung des Familienzweiges. Das in Europa allgemein bekannte Adoptionssystem für das Wohl des Kindes wurde in Japan erst 1988 geregelt und wird als „Speziale Adoption“ von der hier beschriebenen „allgemeinen Adoption“ unterschieden.
C. T. van Assendelft de Coningh, ein holländischer Kapitän, der Anfang des 19. Jahrhunderts in Nagasaki verweilte, beobachtete, dass (in Japan) ein Sohn den Beruf des Vaters übernimmt und „wenn er [der Vater] mehr als einen Sohn hat, dann nehmen die anderen, die keinen Sohn haben, einen Sohn von ihm.“ Dieses System funktioniert bis zur heutigen Zeit, wie das folgende Beispiel zeigt.
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Es handelt sich um den Stammbaum von Japans Premierminister Abe Shinzō. Dessen Urgroßvater überließ einst seinem Freund Satō seinen Sohn Shusuke, von dem der Friedensnobelpreisträger Satō Eisaku abstammt. Als Abes Großvater „nur“ eine Tochter bekam, gab ihm die Familie Satō den Sohn Nobusuke zurück, dessen Tochter die Mutter von Abe Shinzō ist. Sie wiederum überließ ihrem kinderlosen Bruder ihren Sohn Nobuo. Das Ganze verlief genauso, wie der holländische Kapitän es einst beschrieb. Der Familienberuf Politik wurde so in Form von Wahlbezirken an die Nachkommen weitergegeben. Die Familien Kishi/Satō sind keine Einzelfälle, denn der Vater des früheren Premierministers Jun’ichiro Koizumi wurde von seinem Schwiegervater adoptiert. Auf diese Weise sind inzwischen ein Drittel aller japanischen Parlamentsabgeordneten adoptierte oder eigene Kinder der zweiten bzw. dritten Generation der politischen Dynastien.
Adoption von Schwiegersöhnen als künftige Leistungsträger des Unternehmens
Ein Artikel der FAZ über die Adoption von Erwachsenen in Japan berichtet davon, dass in 425 Fällen der Unternehmensübergabe lediglich 57 % an leibliche Söhne vererbt wurden; fast jedes zehnte Unternehmen aber ging an Nachfolger durch Adoption. In der Handelsmetropole Ōsaka gibt es das Sprichwort „Man kann den eigenen Sohn nicht aussuchen, den Schwiegersohn aber schon.“ Früher wurde die Geburt von Töchtern groß gefeiert, weil diese die Möglichkeit bot, später einen kompetenten Manager einheiraten zu lassen. Auch in Familienbetrieben im alten Edo galt eine ähnliche, oder gar strengere Hausregel: „Lasse deine Söhne eigene Familien gründen oder sie zur Adoption freigeben. Geerbt wird nur von Adoptivsöhnen. Vererbung an leibeigene Söhne ist verboten.“ Bei Händlern von Trockenfischen, so berichtet eine Studie der Kansai Universität, wählte gar die Händlergenossenschaft die Adoptivsöhne für Kollegen aus. Anders als in konfuzianischen Gesellschaften in Ostasien wird in Japan kein großer Wert auf das Blut männlicher Erben gelegt. Wichtiger ist neues (leistungsstarkes) Blut von außen. Japanische Unternehmer sind davon überzeugt, dass erfolgreiche Manager dank der Adoption über den Arbeitsvertrag hinaus durch familiäre und gesellschaftliche Pflichten an das Unternehmen gebunden sind und nicht etwa durch Head Hunting abgeworben werden können. Dabei droht nicht unbedingt eine Zwangsheirat: Die Adoption eines Erben kann auch unabhängig von der Ehe mit einer Tochter des Hauses stattfinden. Manchmal wird sogar ein junges Ehepaar adoptiert. Das Familiengut geht auf diese Weise zwar an fremde Menschen über, aber deren absolute Loyalität den Adoptiveltern gegenüber ist stets sicher, denn die Gesellschaft duldet keinen Loyalitätsbruch der Adoptivkinder.
Adoption als Aufstiegshilfe
Laut des Umi wo koeta nihonjinmei jiten (Lexikon der japanischen Reisenden ins Ausland) waren von den ca. 1.700 aufgeführten Japanern 164 Adoptivkinder, also jeder Zehnte. In der Meiji-Ära (1868-1911) waren Auslandsreisen und -studien sehr teuer und nur außergewöhnlich Begabten oder Reichen gegönnt. Wenn also viele adoptierte Personen die Möglichkeit hatten, ins Ausland zu fahren, ist anzunehmen, dass diese überdurchschnittlich begabt waren und dass sie gerade deswegen (von ranghöheren Familien) adoptiert wurden. Der japanische Politiker des 19. Jahrhunderts Itō Hirobumi, dessen Name in Deutschland durch Kreuzworträtsel bekannt ist, war so ein Fall. Nur weil sein Vater, ein armer Samurai niedriger Klasse, dank seiner hohen Leistungsfähigkeit von einem höher gestellten Samurai als Stammhalter adoptiert wurde, kam er sozusagen als „Adoptivenkel“ in die Familie und nahm den Namen Itō an. Für ärmere, jedoch talentierte, junge Leute bedeutete das System der Adoption im 19. Jahrhundert somit eine Aufstiegshilfe.
Eine interessante Variante stellt Geiyōshi in der Welt des Kabuki-Theaters dar. Wenn ein Kabuki-Spieler keinen Sohn oder der Sohn kein schauspielerisches Talent hat, wird ein talentierter, fremder Nachwuchsspieler als künstlerischer Stammhalter (Geiyōshi) ernannt. Der als hervorragende Onnagata (Frauenrolle) bekannte Bando Tamasaburō
V. ist ein Beispiel dafür. Er wurde als Sohn eines Restaurantwirts geboren, besuchte zur Linderung seiner Kinderlähmung einen japanischen Tanzkurs, in dem sein Talent vom späteren Adoptivvater Morita Kan’ya XIV. entdeckt und er mit 14 Jahren zu dessen Geiyōshi ernannt wurde. Er wurde später von ihm sogar standesamtlich adoptiert. Da die Kabuki-Spieler schon im sehr jungen Kindesalter auftreten und ihre Schauspielkunst im Familienleben vermittelt bekommen, verhilft diese Adoptionsvariante auswärtigen, talentierten Kindern zu einer Aufstiegschance in der Kabuki-Welt.
Die Rolle der Adoption in der Zukunft
Die Nachfrage nach Erwachsenenadoptionen besteht im heutigen Japan immer noch. Allerdings übernehmen immer mehr Töchter selbst die Betriebe ihrer Väter, so dass der ursprüngliche Sinn der Adoption keine entscheidende Rolle mehr spielt. Wenn man nun kein Unternehmen zu vererben, sondern nur familiäre Pflichten, wie die Pflege der alternden Schwiegereltern, anzubieten hat, wird die Suche nach einem Adoptivbräutigam schwieriger. Daher entstanden in letzter Zeit Heiratsbörsen, die sich auf Adoptivbräutigame spezialisieren. Es ist interessant zu beobachten, wie sich das lang bewährte System der künftigen Gesellschaftsentwicklung anpassen wird.
Dieser Text erschien in der Januar-Ausgabe von JAPANDIGEST und wurde für die Veröffentlichung auf der Webseite nachbearbeitet.
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