Kanakuri Shisō wurde 1891 in Kumamoto geboren. Als Grundschüler musste er jeden Tag sechs Kilometer zu seiner Schule zurücklegen. Gemeinsam mit anderen Schülern lief er die Strecke. Anfangs hasste er das Laufen. Um es sich leichter zu machen, entwickelte er eigens eine Atemtechnik und fortan machte es ihm Spaß. Als Mittelschüler packte ihn der Ehrgeiz beim Lernen und 1910 ging er schließlich nach Tōkyō, wo er eine Lehrerausbildung machte. Im Herbst fand dort ein Langstreckenlauf statt. In seinem ersten Jahr belegte er, ohne vorheriges Training, den 3. Platz. Davon motiviert, trainierte er und ging in seinem zweiten Jahr als Sieger hervor.
Zu dieser Zeit wandte sich Pierre de Coubertin, Gründer der modernen Olympischen Spiele, an Kanō Jigorō, mit der Bitte, Japan möge an der Olympiade teilnehmen. Kanō war Leiter der Schule, an der Kanakuri seine Ausbildung absolvierte, und außerdem Gründer der Kōdōkan-Jūdō-Schule. Doch um an den Olympischen Spielen teilzunehmen, musste zunächst ein landeseigenes Olympisches Organisationskomitee (OOC) errichtet werden. Trotz Rücksprache mit dem Kultusministerium und dem Landesverband für Sport kam es zu keiner Zusammenarbeit und Kanō rief schließlich auf eigene Faust eine Organisation ins Leben. Mit der Gründung der Olympic Sports Association 1911 fanden in Japan auch die ersten olympischen Qualifikationsturniere statt. Unter den 25 teilnehmenden Marathonläufern wurde Kanakuri Shisō als Repräsentant für Japan ausgewählt.
Es war das erste Mal, dass Japan an einem internationalen Sportwettbewerb teilnahm oder gar japanische Athleten gegen solche anderer Nationen antraten. Damals wurde der Kampfsport auch noch nicht als „Sport“ angesehen. Dass Japan 1912 als erstes asiatisches Land an einer Olympiade teilnahm, markierte einen Meilenstein in der japanischen Sportgeschichte.
Doch es ist kein Zuckerschlecken, an einem sportlichen internationalen Großevent wie den Olympischen Spielen anzutreten. Aus verschiedenen Gründen schaffte Kanakuri es nicht bis zur Ziellinie des Marathonlaufs. Während des Laufs wurde er benommen, wich an der 26,7-km-Marke von der Strecke ab und wurde von lokalen Anwohnern wieder aufgepäppelt. Zum einen gab es zu der Zeit in Japan weder Läufe, die länger als 40 km waren, noch eine etablierte Trainingsmethode. Die USA zum Beispiel, die bei der Olympiade viele Medaillen holten, hatten für ihre Athleten ein eigenes Schiff zur Verfügung gestellt, auf dem sie sich unbesorgt und konzentriert auf die Wettkämpfe vorbereiten konnten. Die japanischen Athleten hingegen mussten alle Reise- und Unterkunftskosten selbst stemmen und sind sogar am Tag des Wettkampfs zu Fuß zur Austragungsstätte gelaufen, als kein Taxi verfügbar war.
Kanakuri sollte auch bei der Olympiade 1916 in Berlin antreten, doch diese wurde wegen des Kriegsausbruchs ausgesetzt. Später lief er in Antwerpen und Paris, hatte jedoch als Athlet schon den Zenit seiner Karriere hinter sich und konnte keinen olympischen Ruhm mehr ernten.
Warum wird Kanakuri als „Vater des Marathons“ bezeichnet?
Er nutzte die Erfahrungen, die er während der Olympiaden gesammelt hatte, um den Marathonlauf in Japan zu verbreiten. Zunächst wollte Kanakuri die Anzahl der Läufer erhöhen und investierte seine Energie in den Stafettenlauf. Als nächstes setzte er das in Stockholm Gelernte um und gliederte Bergsteigen ins Training ein, der Ursprung des Fuji-Staffellaufs. Weiterhin zog er für das Training die Jahreszeiten in Betracht und legte Läufe auf besonders kalte oder heiße Termine.
Staffelläufe ziehen außerdem jede Menge Zuschauer an, die die Läufer unterstützen. So konnten nicht nur die Athleten, sondern auch die allgemeine Bevölkerung Spaß am Sport finden. Der bis heute jedes Jahr zu Neujahr stattfindende Hakone-Staffellauf geht auf Kanakuri zurück. Er war ein Mensch, der den Frust nach der schweren Niederlage bei der Olympiade als Antrieb nutzte, um den Marathonlauf in Japan groß zu machen.
Doch noch eine andere Sache ist unglaublich: Kanakuri lief den olympischen Marathon in sogenannten Tabis. Diese werden wie Socken unter traditionell japanischem Schuhwerk wie Geta oder Zōri (Holz- und Strohsandalen) getragen. Bei diesen trennt ein Riemen den großen und die kleineren Zehen. Bei der Qualifizierungsrunde 1911 für die Olympischen Spiele traten einige Läufer in Strohsandalen an. Kanakuri selbst trug Tabi, die nach dem Wettkampf sehr abgenutzt waren, nach der Hälfte der Zeit lief er barfuß. Über einen Monat war er wegen blutigen Blasen an den Fersen beim Laufen eingeschränkt. In Japan gab es damals noch keine Laufschuhe und für die Olympiade besorgte er sich ein neues Paar Tabi der Firma Harimaya, wickelte diese dick in Stoff ein und lief so. Die internationalen Athleten waren genauso überrascht von Kanakuris Auftreten, wie dieser von deren Laufschuhen.
Zurück in Japan machte sich Kanakuri gemeinsam mit Kurosaka Shinsaku, Gründer von Harimaya, daran, den Tabi zu reformieren. Bei der Olympiade war Kanakuri aufgefallen, dass die Laufschuhe der Athleten mit einer Gummisohle versehen waren, die nun auch für Tabi benutzt wurde. Aus der Kombination von den Tabi, die Kanakuri benutzte, und den Verbesserungen durch Kurosaka entwickelte sich der Tabi zum Laufen. Tatsächlich trug der koreastämmige Läufer Sohn Kee-chung bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin die sogenannten „Kanakuri-Tabi“ und holte Gold. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Laufschuhe in Japan gängig.
Bibliographie: „Kanakuri Shisō: Der verschwundene olympische Läufer“, Sayama Kazuo / MARUGO COMPANY INC.
Dieser Artikel wurde von Kei Okishima für die Januar-Ausgabe des JAPANDIGEST 2020 verfasst und für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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