Hiratsuka Raichō wurde in die Meiji-Zeit (1868-1912) hineingeboren, in der Frauen kaum Rechte besaßen. Im Jahre 1890 wurde ein Gesetz erlassen, dass es ihnen verbot, an politischen Versammlungen teilzunehmen, sodass sie praktisch keinen Zugang zum politischen Leben hatten. Im 1898 neu aufgelegten Zivilrecht wurden außerdem traditionelle Strukturen wiederbelebt wie das ie-System, welches die Frau in erster Linie in ihrer Rolle als ryōsai kenbo („gute Ehefrau und weise Mutter“) vorsah, die dem männlichen Familienoberhaupt hierarchisch untergeordnet war. Hiratsuka war eine der ersten Frauen, die sich gegen diese immer flächendeckendere strukturelle Diskriminierung zu wehren begannen.
Hiratsukas Jugendjahre
Hiratsuka Raichō wurde unter dem Namen Hiratsuka Haru am 10. Februar 1886 als drittjüngste Tochter Hiratsuka Sadajirōs und dessen Ehefrau Tsuya geboren. Ihr Pseudonym „Raichō“ bedeutet „Donnervogel“, ist aber auch die Bezeichnung für das „Alpenschneehuhn“, eine in Japan verbreitete Fasanenart.
Beide Eltern stammten ursprünglich aus Samurai-Familien, doch der Vater war als hochrangiger Regierungsbeamter sehr versiert in der deutschen Sprache und vertrat für die damalige Zeit relativ progressive Ansichten. Im Rahmen seiner Arbeit als Finanzminister reiste er nach Europa und in die Vereinigten Staaten und erwartete von Raichōs Mutter, dass sie Englisch lernte, um die ausländischen Gäste der Familie zu unterhalten. Überhaupt war Bildung in seinen Augen ein hohes Gut: So war er auch nicht gegen den Schulbesuch seiner Töchter, was damals sehr ungewöhnlich war.
Der Unterricht an der staatlichen Ochanomizu-Oberschule allerdings war sehr streng und in ihrem dritten Jahr rebellierte Hiratsuka gegen den für Mädchen vorgesehenen shūshin („Moralunterricht“), der darin bestand, den Schülerinnen beizubringen, wie sie nach dem ryōsai kenbo-Prinzip zu sein hatten, nämlich fleißige und tugendhafte Ehefrauen. Hiratsuka gründete zusammen mit Freundinnen, die sich ebenfalls dagegen wehren wollten, die Kaizoku Gumi („Piratengruppe“) und boykottierte den Unterricht.
Ab 1903 besuchte sie die Universität Nihon Joshi Daigakkô (heute Nihon Joshi Daigaku), was sie sich erkämpfen musste, da sich ihr Vater zum ersten Mal gegen den Wunsch seiner Tochter sperrte. Er sah den Universitätsbesuch als eher schädlich statt nützlich für Frauen an und erlaubte ihr nicht, ihr Wunschfach Englisch zu studieren; sie musste stattdessen Hauswirtschaft wählen. Indirekt setzte sie sich dennoch durch, indem sie freiwillig so viele Englischkurse besuchte, wie sie nur konnte, und für ihre Abschlussarbeit ein Thema wählte, was nicht den entferntesten Bezug zur Hauswirtschaft hatte.
Der Shiobara-Vorfall
Nach dem Universitätsabschluss besuchte Hiratsuka verschiedene Sprachschulen, um ihr Englisch weiter zu verbessern, darunter die Seibi Joshi Eigo Gakkō („Seibi Englischschule für Damen“), wo sie dem Literaturkreis Keishū Bungakukai beitrat. Dort lernte sie Kreatives Schreiben und verfasste 10 Tanka-Gedichte, von denen eins in einer Literaturzeitschrift abgedruckt wurde, sowie ihren ersten Roman Ai no Matsujitsu („Der letzte Tag der Liebe“).
Im Literaturkreis lernte die 23-jährige Hiratsuka den Dozenten Morita Sōhei kennen. Obwohl dieser bereits verheiratet und Vater eines Kindes war, bahnte sich eine Affäre zwischen den beiden an. Hiratsuka weigerte sich jedoch, eine sexuelle Beziehung mit ihm einzugehen, woraufhin Morita, offensichtlich inspiriert von Gabriele D’Annunzios literarischem Werk „Der Triumph des Todes“ (1894), den Gedanken äußerte, sie zu töten, um sie ganz für sich zu haben. Hiratsuka, die sich damals von den Konventionen und Pflichten, die sie als Frau einschränkten, erstickt fühlte, willigte ein, und die beiden planten zusammen ihren Tod.
Sie hinterließ einen Abschiedsbrief und lief mit Morita von zu Hause fort. Ihre Familie ließ sofort eine Suchmeldung herausgeben. Die Polizei fand die beiden am nächsten Tag in den Bergen von Shiobara Hand in Hand durch den Schnee spazieren. Morita hatte es nicht über sich gebracht, die junge Hiratsuka zu ermorden, der Vorfall würde ihm jedoch später als Material für seinen Roman Baien („Rauch“) dienen, dessen Protagonistin Hiratsuka sehr ähnelt. Ob er dies von Anfang an geplant oder wirklich vorgehabt hatte, einen Mord zu begehen, ist unklar, ebenso, ob Hiratsuka tatsächlich den Wunsch hatte, zu sterben.
Im Anschluss des „Shiobara-Vorfalls“ war ihr Ruf ruiniert und die Presse zog monatelang über sie her. Man stellte sie als unmoralische, egoistische Frau dar, die es darauf angelegt hatte, Moritas Ehe zu ruinieren. Ihr Name wurde sogar von der Liste der Alumni ihrer Universität gestrichen. Hiratsukas Familie allerdings stand hinter ihr und, wie die japanische Gender-Forscherin. Tomida Hiroko vermutet, bestärkten die negativen Pressestimmen sie nur noch darin, sich aktiv für die Frauenrechte einzusetzen – zumal sie von anderen Frauen durchaus Unterstützung erhielt und für einige junge Frauen sogar zum Vorbild wurde.
Am Anfang war die Frau die Sonne
Nach dem Shiobara-Vorfall wurde die Keishū Bungakukai aufgelöst, doch deren Initatior Ikuta Chōkō regte Hiratsuka dazu an, eine neue literarische Vereinigung zu gründen: die Seitō-sha („Blaustrumpfgesellschaft“). Im September 1911 wurde unter dem Namen Seitō das erste nur von Frauen produzierte Literaturmagazin herausgebracht, das mit einem von Hiratsuka verfassten Plädoyer für die Frauenrechte beginnt. Hieraus stammt das berühmte Zitat Genshi josei ha taiyō de atta („Am Anfang war die Frau die Sonne“). Hiratsuka vergleicht hier die Frau mit der Sonne, die von sich aus leuchtet und sich nun in den Mond verwandelt hätte, der nur von außen angestrahlt werden kann. Sie drückt in ihrem sehr poetischen Text auch den Wunsch aus, alle Frauen mögen ihr verborgenes Potenzial entdecken.
Obwohl die Seitō-sha von großer Bedeutung war, lag Hiratsuka ihre 1919 zusammen mit Ichikawa Fusae und Oku Mumeo gegründete politische Organisation Shin Fujin Kyōkai („Der Verband der Neuen Frauen“) noch mehr am Herzen. Hier wurde nicht nur über feministische Theorien diskutiert, sondern der Grundstein für politische Reformen gelegt. Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der die Welt im Aufbruch war und in Ländern wie Kanada, Österreich und Deutschland das Frauenwahlrecht bereits Realität geworden war. In Japan war mit der Taishō-Zeit (1912-1926) eine neue Ära eingeleitet worden und westliche Ideen gewannen durch Literatur und Theater an Einfluss.
Politisches Engagement
Die Shin Fujin Kyōkai hatte zunächst drei politische Anliegen: 1. Die Revision des Chian Keisatsu Hō („Ordnungs- und Polizeigesetz“), nach dem Frauen nicht an politischen Versammlungen teilnehmen durften, 2. die Verabschiedung eines Gesetzes, das an einer Geschlechtskrankheit leidenden Männern die Heirat untersagte und 3. die Durchsetzung des Frauenwahlrechts. Diese versuchten sie durch Petitionen und Lobbyarbeit durchzusetzen, außerdem organisierten sie Vorträge und Seminare, um mehr Mitglieder zu gewinnen und die politische Bildung unter den Frauen zu fördern. Eine wichtige Plattform war außerdem das 1920 erstmalig herausgebrachte Magazin Josei Dōmei („Frauenbündnis“), in dem u. a. der Verlauf der Petitionen dokumentiert wurde.
Im Gegensatz zur Seitō-sha, die auf ein eher negatives Medienecho stieß, erntete die Shin Fujin Kyōkai sehr viel Lob von der Presse. Während erstere eine reine Frauenorganisation war, hatte letztere auch viele einflussreiche männliche Mitglieder. Dennoch blieb ihr politischer Einfluss letztlich gering. Die Petition für das Frauenwahlrecht blieb erfolglos, ebenso wie das Anliegen, Männern mit Geschlechtskrankheiten die Heirat zu verbieten, da das Vorhaben als zu drastisch und einseitig angesehen wurde.
Hiratsuka wurde auch dafür kritisiert, dass sie kein Bewusstsein für die Nöte weniger privilegierter Frauen wie Prostituierten hatte und sich nicht für deren Schutz einsetzte. Eines konnte die Organisation jedoch erreichen, bevor sie sich 1922 auflöste: Frauen bekamen das Recht, an politischen Versammlungen teilzunehmen.
Einfluss bis heute
Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die japanischen Frauen im Dezember 1945 endlich das Wahlrecht. Hiratsuka schwankte zwischen Dankbarkeit und Frustration, da es die amerikanischen Besatzer waren, die dies durchgesetzt hatten, und nicht die Frauen selbst. Sie fürchtete, der jahrelange Kampf der Feministinnen würde nun keine historische Relevanz mehr haben.
In den folgenden Jahren begann sich Hiratsuka immer mehr für die Friedensbewegung zu engagieren. 1962 gründete sie gemeinsam mit der Schriftstellerin Nogami Yaeko, der Illustratorin Iwasaki Chihiro und weiteren Frauen eine neue Vereinigung, die Shin Nihon Fujin no Kai (New Japan Women’s Association), welche bis heute existiert. Diese setzt sich nicht nur für die Rechte von Frauen und Kindern ein, sondern folgt einem friedenspolitischen Ansatz, ist sehr aktiv in der Anti-Atomkraft- und Anti-Atomwaffen-Bewegung und entschieden gegen die Abschaffung des Artikels 9 der japanischen Verfassung. In den 1960er und 70er Jahren standen besonders Umweltschutz, kostenlose medizinische Versorgung und Widerstand gegen den Vietnamkrieg auf dem Programm, ein Thema das Hiratsuka bis kurz vor ihrem Tod 1971 beschäftigte.
Die Shin Nihon Fujin no Kai, deren Themen jetzt aktueller denn je sind, ist bis heute in ganz Japan aktiv und beteiligte sich beispielsweise auch nach der Dreifachkatastrophe in Fukushima 2011 aktiv an Demonstrationen. An Hiratsukas unbeirrtem Engagement für die Frauenrechte und den Weltfrieden können wir uns ein Beispiel nehmen und ohne Zweifel zählt sie zu den wichtigsten, historischen Persönlichkeiten Japans.
Quellen:
https://www.britannica.com/topic/Japanese-Civil-Code
https://de.wikipedia.org/wiki/Hiratsuka_Raich%C5%8D
https://www.shinfujin.gr.jp/about/history/
Tomida, Hiroko (2004): „The Association of New Women and its Contribution to the Japanese Women’s Movement“. In: Japan Forum, 17:1, S. 49-68.
Tomida, Hiroko (2004): Hiratsuka Raichō and early Japanese feminism. Leiden: Brill.
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